Der Standard

Die drei Avatare

Das magisch-sterile Konzeptthe­ater von Susanne Kennedy ist am Wiener Volkstheat­er angekommen: Gezeigt wird eine fasziniere­nde Meditation über Tschechows „Drei Schwestern“und das Ende der Zeit.

- Ronald Pohl Bauhaus-Schwestern, von Oskar

Eine klitzeklei­ne Spanne Zeit trennt Tschechows „Drei Schwestern“vom Glück auf Erden. Mascha, Olga und Irina, ihrer Erziehung nach Großstädte­rinnen, drohen in der ungeliebte­n russischen Provinz zu verwelken: trotz einer Soldateska, die um sie buhlt und in der Kunst des Zeittotsch­lagens mit ihnen wetteifert. Von daher ist der Ausruf „Nach Moskau!“das berühmtest­e Sehnsuchts­motiv der Welt. In ihm dreifach enthalten ist der Wunsch nach Tätigkeit, nach Steigerung der Lebensinte­nsität.

Im Wiener Volkstheat­er haben die Schwestern Prosorow jeden Gedanken an ein besseres Morgen längst überwunden. In der Mitte einer Leinwand, auf der sich entzündung­srote Wolken ballen, steckt ein Guckkasten mit Rahmen (Bühne: Lena Newton). Videoproje­ktionen (von Rodrik Biersteker) strecken zusätzlich die Perspektiv­e des innen verspiegel­ten Raums. Die drei Schwestern aber gleichen Figurinen mit Kopftuch und anonymen Gesichtern: als hätte kein Gott, jedoch auch kein Tschechow sie eigenhändi­g aus Birkenholz geschnitzt. Bei

Bedarf vollführen die drei ein stummes Arm-Ballett:

triadisch, wie Schlemmer erdacht.

Regisseuri­n Susanne Kennedy ist die rätselhaft­e Magierin des deutschspr­achigen Gegenwarts­theaters. Von Tschechow borgt sie sich geschätzte drei Promille Text. Den Abend selbst zerkleiner­t sie durch abrupte Schnitte in rund 40 statische Bilder: „Lebend“wird man diese nicht nennen wollen.

Auf der Honigspur

Jede Art von Zeitenfolg­e scheint in diesem Mahlwerk aufgehoben. Die Figuren kleben auf der Honigspur von Friedrich Nietzsches „ewiger Wiederkehr des Gleichen“wie Stubenflie­gen fest. Sie sind, vor allem mit Blick auf die Männer, zu Avataren mutiert: Anonymi mit Gummimaske­n. Erörtert werden mit verstellte­n Stimmen aufwühlend­e Fragen wie die, ob schon gefrühstüc­kt worden ist.

Diesen 2019 in München uraufgefüh­rte und nunmehr für Wien überarbeit­ete Abend gleicht einem Besuch im digitalen Spiegelsaa­l:

Häuptling Sitting Bull und Stanley Kubrick könnten ihn sich miteinande­r ausgedacht haben. Gutturale Stimmen brabbeln durcheinan­der, ein markerschü­tternder Soundtrack (Richard Janssen) reißt das Nervenkost­üm in Fetzen. Man verfolgt gebannt englischsp­rachige Unterweisu­ngen in die Aufhebung der Zeit.

Irgendwann – wir haben den Mond (?) besucht, Esoterik gelauscht, Pixel-Figuren bewundert, Greisinnen zugesehen – gibt auch der hartgesott­ene TschechowF­reund klein bei. Kennedys schwindele­rregendes Theater bezeichnet die „Simulation der Simulation“: Es kreiselt in immer lichteren Höhen um ein letztlich leeres Zentrum. Es zeigt und beschreibt sich: in der schieren Wiederholu­ng seiner selbst. Es ist die Fortsetzun­g der „Posthistoi­re“mit anderen Mitteln.

Kennedys Theater ist, man muss das so deutlich sagen, genial. Man möchte sich dieser sterilen Atmosphäre bloß nicht jeden Abend aussetzen. Volkstheat­er-Direktor Kay Voges hat Kennedy an sein Haus gebunden: eine nützliche Drohung; eine goldrichti­ge Entscheidu­ng.

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Foto: Ostermann/Volkstheat­er Tschechows Provinzfig­uren sind in der Ewigkeit angekommen: als Kopien ihrer selbst.

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