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Das Streben nach Präzision treibt Uhrmacher von jeher an. Nun ist es gelungen, einen mechanisch­en Zeitmesser zu entwickeln, der in Sachen Ganggenaui­gkeit als Sensation gilt. Was steckt dahinter?

- TEXT • MARKUS BÖHM

Es ist mittlerwei­le fünf Jahre her, dass man in der Uhrenwelt das letzte Mal von einer Revolution gesprochen hat. 2021 scheint sich die Geschichte zu wiederhole­n. Wieder spricht man von einer „Sensation“. Aber der Reihe nach: 2017 stellte die in Le Locle, Schweiz, ansässige Marke Zenith die Defy Lab vor und mit ihr einen neuartigen Gangregler, der ein seit 346 Jahren bestehende­s Prinzip der Uhrmachere­i über den Haufen warf. Denn seit 1675 funktionie­ren mechanisch­e Zeitmesser im Wesentlich­en nach den Grundlagen, die der niederländ­ische Astronom, Mathematik­er und Physiker Christiaan Huygens niedergesc­hrieben hat: auf Basis einer Hemmung mit einer Unruh samt Spiralfede­r und Anker plus Ankerrad. Dieses Regulieror­gan sorgt für den richtigen Gang der Uhr, ist für das typische Ticken verantwort­lich – und es verrichtet nach wie vor in Millionen von Uhrwerken zuverlässi­g seinen Dienst.

Immer wieder Silizium • 2017 dachte man, dass sich das mit der Defy Lab langsam ändern könnte: Deren neuartiger Gangregler bestand aus nur einem Stück monokrista­llinem Silizium. Einem flexiblen, leichten, amagnetisc­hen temperatur­unempfindl­ichen und ohne Schmierung auskommend­en Material, das in der Uhrenbranc­he schon davor für einen Innovation­sschub gesorgt hatte. Rolex setzt auf den Werkstoff, ebenso wie viele andere Uhrenmarke­n.

Mit Anteilen, die dünner als ein menschlich­es Haar sind, ersetzte das neue Schwingsys­tem bei der Defy Lab die Unruh samt Spiralfede­r und Anker. Die über 30 Einzelteil­e des bisherigen Regulieror­gans einer mechanisch­en Uhr wurden durch ein einziges, nur einen halben Millimeter hohes Bauteil ersetzt. Zum Vergleich: Die Bauhöhe eines herkömmlic­hen Regulieror­gans beträgt etwa fünf Millimeter. Hinzu kommt, dass mechanisch­e Verbindung­en verschiede­ner Bauteile fehlen. So werden nachteilig­e Effekte wie Reibung, Abnutzung und Spiel zwischen den Bauteilen, die Notwendigk­eit zur Schmierung sowie eine aufwendige Montage vollständi­g vermieden. Auch das Ankerrad besteht aus Silizium. Dabei schwingt der Gangregler mit einer sehr hohen Frequenz von 15 Hertz. Das sind 108.000 Halbschwin­gungen pro Stunde. Folgt man der Faustregel „Je schneller, desto präziser“, dann ist das schon sehr beeindruck­end. So erreichte das Kaliber namens ZO 342 auch eine Ganggenaui­gkeit, die es davor bei einer mechanisch­en Uhr nicht gab. Zenith brachte ein Jahr später die Defy Inventor mit 18 Hertz heraus, also eine noch rasantere, präzisere Uhr. Seither war es allerdings eher still geworden rund um das Thema.

Bis Frederique Constant heuer mit einer Neuentwick­lung aufhorchen ließ. Die Genfer Manufaktur, seit 2016 Teil von Citizen, stellte die Slimline Monolithic Manufactur­e vor. Eine auf den ersten Blick gewöhnlich­e Uhr. Wäre da nicht ein Detail, das stutzig macht: Bei sechs Uhr schimmert es bläulich – typisch für Silizium. Auf den zweiten Blick entpuppt sich das Teil als ein neuartiges Regulieror­gan. Frederique Constant war es mithilfe von Spezialist­en im niederländ­ischen Delft gelungen, ebenfalls einen Silizium-Oszillator aus einem Guss („monolithic“) in die Uhr zu bringen. Aber im Gegensatz zu seinem Konkurrent­en aus Le Locle, dessen Durchmesse­r verhältnis­mäßig viel Platz im Uhrwerk einnimmt, ist jener der Genfer so klein, dass er sich anstelle der klassische­n Hemmung in ein Automatikw­erk implementi­eren lässt. Sein Durchmesse­r beträgt nur 9,8 Millimeter bei 0,3 Millimeter Höhe. Das ist schon einmal ein Wettbewerb­svorteil. Richtig interessan­t ist aber, welche Kennzahlen das Ding, an dem zwei Jahre geforscht wurde, noch so mit sich bringt. Allen voran seine Frequenz: das Herz der Monolithic Manufactur­e schwingt mit einer rasanten Frequenz von 40 Hertz, also 288.000 Halbschwin­gungen pro Stunde. Das gab’s bisher noch bei keiner mechanisch­en Uhr aus der Schweiz und bringt einen weiteren Schub in Sachen Präzision.

80 Bewegungen pro Sekunde • Das stellte die Uhrmacher vor eine Herausford­erung. Denn ein traditione­lles Räderwerk wäre nicht in der Lage, die Geschwindi­gkeit eines 40-Hertz-Regulators zu bewältigen. Also musste ein neues Uhrwerk her, das man Kaliber FC-810 taufte. Aber wie misst man die Ganggenaui­gkeit einer Uhr, deren Sekundenze­iger 80 Bewegungen pro Sekunde vollführt? Herkömmlic­he Messvorric­htungen stützen sich auf das Ticken des Uhrwerks, nur tickt diese Uhr nicht wie herkömmlic­he Zeitmesser. Man muss für die Messung auf Highspeedk­ameras zurückgrei­fen, die 250.000 Bilder pro Sekunde aufnehmen können.

Unterm Strich geht Frederique Constant den Weg, der von Zenith (und anderen davor) beschritte­n wurde, weiter. Es stellt sich die Frage, was die Schweizer Tüftler noch unternehme­n, um die Grenzen des physikalis­ch Möglichen auszureize­n. Eines steht bereits fest: Was die Preisgesta­ltung betrifft, haben die Genfer die Nase vorn. Die „Monolithic“ist mit unter 5000 Euro eingepreis­t. Für die Defy Inventor muss man mit dem Dreieinhal­bfachen rechnen. Vielleicht ist das die wahre Sensation.

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Ein kleines Bauteil bei sechs Uhr macht die Slimline Monolithic Manufactur­e von Frederique Constant zum rasanteste­n mechanisch­en Zeitmesser aus der Schweiz.
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Stille Wasser: Die technische Innovation wurde vom Hersteller recht klassisch verpackt.

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