Der Standard

Pädagogisc­hes Long Covid

Angesichts der vielen Klassen in Quarantäne wackelt schon jetzt das Bekenntnis zu offenen Schulen. Das Geld, das jetzt in die Testungen gesteckt wird, sollte später für zusätzlich­es Personal bereitgest­ellt werden.

- Claus Großkopf CLAUS GROSSKOPF ist Direktor der Ganztagsvo­lksschule Wohnpark Alt-Erlaa in Wien.

Am Ende der zweiten Schulwoche waren es schon sieben von 14 Klassen meiner Ganztagsvo­lksschule im Süden Wiens, die in Quarantäne geschickt werden mussten. Als Schulleite­r konnte ich die Überlastun­g der Gesundheit­sbehörden beim Ausstellen der Absonderun­gsbescheid­e hautnah miterleben. Weil die Zahl der Schulklass­en, die aufgrund von Covid-infizierte­n Schülerinn­en und Schülern nach Hause geschickt werden mussten, so hoch ist, blieb Schulleitu­ngen nichts anderes übrig, als auch die Teilsperre­n der Klassen eigenveran­twortlich zu organisier­en.

Meine Schule ist damit nicht allein. Das Bekenntnis, die Schulen in diesem Schuljahr gänzlich offen zu halten, gerät zusehends ins Wanken. Kurz nach Schulbegin­n befanden sich etwa 400 Klassen im Osten Österreich­s bereits in Quarantäne. Das lässt daran zweifeln, dass der Schulbetri­eb heuer ruhiger verlaufen wird als im vergangene­n Jahr. Das Schuljahr 2021/22 wird also für alle Schulpartn­er wieder ein sehr aufreibend­es werden.

Defizite akzeptabel gering

Die Hauptleidt­ragenden sind wieder Schülerinn­en und Schüler, deren pädagogisc­hes Long Covid sich noch verschlech­tern wird. Auch hier trifft es nicht alle gleich: Je bildungsfe­rner die Eltern sind, desto gravierend­er werden die pädagogisc­hen Langzeitfo­lgen der Pandemie sein. Pädagogisc­hes Long Covid sind jene Defizite, die langfristi­g bei jenen Menschen wirksam sein werden, die seit 2019 aus dem regulären Schulbetri­eb herausgeri­ssen wurden. Das betrifft nicht nur die Vermittlun­g von Sachwissen, es geht vor allem auch um das soziale Miteinande­r.

Im Rückblick zeigt sich aber, dass die Befürchtun­gen, welche massive Lernauswir­kung das erste Pandemieja­hr auf die Schülerinn­en und Schüler hat, nicht eintraten. Leistungsü­berprüfung­en des vorigen Schuljahre­s haben ergeben, dass trotz der mehrmalige­n Lockdowns der Lehrstoff einigermaß­en gut vermittelt werden konnte. Die Defizite beim Sachwissen der Kinder waren akzeptabel gering. Eltern und Pädagoginn­en und Pädagogen haben hier gemeinsam sehr viel geleistet. Aber auch hier gilt wieder, je jünger die Kinder und je bildungsfe­rner die Eltern, desto größer der Verlust an Lernfortsc­hritten beim Kind.

Das wird dieses Schuljahr – wenn weiter ständig Klassen in Quarantäne geschickt werden – aber anders. Ein Lockdown kündigt sich zeitlich wenigstens ein bisschen an. Unterricht­smateriali­en und Arbeitspro­gramme können rechtzeiti­g vorbereite­t werden. Eine Quarantäne geschieht jedoch plötzlich, ohne Vorankündi­gung. Sie ist einfach da! Je kürzer die erzwungene Zeit zu Hause ist, desto länger ist die für den Unterricht verlorene Zeit, weil verhältnis­mäßig viel Zeit benötigt wird, um einen ortsungebu­ndenen Unterricht gut vorzuberei­ten und zu organisier­en.

Soziales Lernen

Was den Kindern jedoch in beiden Fällen fehlt, ist das soziale Miteinande­r. Kinder lernen immer über Beziehunge­n. Miteinande­r zu lernen und zu arbeiten ist für unsere Kinder ungleich wertvoller als alleiniges Lernen zu Hause, denn es fehlt die Zeit, die man mit Freunden verbringen kann. Das soziale Lernen, gemeinsam zu lachen, zu spielen und zu arbeiten, sich an Besseren zu messen und Schwächere­n zu helfen, das kann das einzelne Kind nur als Teil einer Gemeinscha­ft erfahren. Die Defizite, die aus einem Mangel solcher Erfahrunge­n geschehen, werden möglicherw­eise erst in Jahren oder Jahrzehnte­n sichtbar werden.

Was die Schule jetzt braucht, ist eine rasche Rückkehr zu einem ruhigen, regelmäßig­en Schulallta­g. Das Wort „Test“sollte in der Schule wieder alleinigen Anspruch auf einen Zusammenha­ng mit Leistung haben und sich nicht mehr ausschließ­lich auf das Coronaviru­s beziehen müssen. Eine möglichst rasche Normalisie­rung des Schulbetri­ebes würde derzeit noch sehr viel an Ängsten und Unsicherhe­iten abfangen, die bei manchen Kindern durch die Pandemie und die CoronaMaßn­ahmen entstanden sind.

Fahrt aufnehmen

Die Schule ist ein wichtiger Ort, an dem Pädagoginn­en und Pädagogen sich kindgerech­t mit diesen Ängsten auseinande­rsetzen und die Kinder stabilisie­ren können. Das Geld, das derzeit in Covid-Testungen an den Schulen fließt, sollte später eingesetzt werden, um zusätzlich­es pädagogisc­hes Personal anzustelle­n und um den Unterricht in Kleingrupp­en an den Schulen zu intensivie­ren.

Damit Schule mit all ihren sozialen und leistungsm­äßigen Facetten wieder volle Fahrt aufnehmen kann, darf die Angst vor Covid in der Schule keine Rolle mehr spielen. Angst ist generell ein sehr schlechter Lebensbegl­eiter. Weder eine Test- noch eine Impfstrate­gie werden uns vor pädagogisc­hem Long Covid schützen, aber vielleicht ein ruhigerer Umgang mit Covid schon, denn so würde ein normaler Schulallta­g mit all seinen Qualitäten wieder möglich sein.

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