Der Standard

SPD und Union fast gleichauf bei Bundestags­wahl

CDU-Verluste etwas geringer als erwartet Koalitions­frage ist völlig offen

- Birgit Baumann und Florian Niederndor­fer aus Berlin

Berlin – Einen spannenden Wahlkrimi lieferte das Nachbarlan­d Deutschlan­d am Sonntag. Nach ersten Prognosen lagen die SPD mit Spitzenkan­didat Olaf Scholz und die Union von CDU/CSU mit Armin Laschet gleichauf. Die Union erlitt jedenfalls empfindlic­he Verluste und damit das historisch schlechtes­te Ergebnis seit ihrem Bestehen. Auf dem dritten Platz rangierten die Grünen mit Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock. Die rechtspopu­listische AfD lieferte sich ein Kopf-anKopf-Rennen mit der FDP, die zum zweiten Mal bei Bundestags­wahlen ein zweistelli­ges Ergebnis einfuhr.

Die Koalitions­frage war jedenfalls am Abend offen. Mehrere Varianten sind möglich. CDU-Generalsek­retär Paul Ziemiak brachte aber bereits eine Jamaika-Koalition zwischen Union, Grünen und FDP ins Gespräch.

In seiner ersten Rede nach Wahlschlus­s meldete Laschet den Kanzlerans­pruch an – obwohl Hochrechnu­ngen eine solche Festlegung noch lange nicht rechtferti­gen konnten. Für Aufregung sorgte, dass Laschet seinen Wahlzettel so einwarf, dass die Kreuze für die Fotografen sichtbar waren.

SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil sah jedenfalls umgehend einen Regierungs­auftrag für die Sozialdemo­kraten: „Die SPD ist wieder da“, sagte er im ZDF. „Wir wollen, dass Olaf Scholz Kanzler wird.“

Neben dem Bundestag wählten die Berliner auch das Abgeordnet­enhaus neu. Dort kam es nach ersten Prognosen zu einem überrasche­nd starken Abschneide­n der grünen Kandidatin Bettina Jarasch. (red)

Stille, absolute Stille. Es war nichts zu hören in der CDU-Zentrale, als am Sonntag um 18 Uhr die ersten Prognosen verkündet wurden. Und das Schweigen hielt auch noch an, als dann vom historisch schlechtes­ten Wahlergebn­is die Rede war. Erst als verkündet wurde, dass es so aussieht, als reiche es nicht für ein rot-rotgrünes Bündnis – also ein linkes ohne Union –, da brach Applaus los.

Dennoch war CDU-Generalsek­retär Paul Ziemiak sofort zur Stelle und räumte ein: „Das tut weh.“Doch er erklärte auch: „Das wird ein langer Wahlabend sein.“Er fand auch etwas Positives im schlechten Wahlergebn­is: „Man kann sehen, dass wir eine Aufholjagd hingelegt haben.“Und er meinte auch, es gehe jetzt darum, eine „Zukunftsko­aliton aus Union, Grünen und FDP“zu bilden.

Auch CSU-Generalsek­retär Markus Blume stieß wenig später in München, in äußerst gedämpfter Laune, ins selbe Horn. Es gelte jetzt, eine „bürgerlich­e Regierung“zu bilden; damit spielte er natürlich auch auf ein JamaikaBün­dnis aus Union (schwarz), Grünen und FDP (gelb) an.

Ganz anders war die Stimmung bei den Sozialdemo­kraten im Willy-Brandt-Haus. Der

Stein, der so von mancher Genossin und so manchem Genossen vom Herzen gefallen sein muss, dürfte in seiner Dimension einem mittleren Gebirgssto­ck nahekommen.

Als Generalsek­retär Lars Klingbeil auf die Bühne kam, war der Jubel so laut, dass man Klingbeil zunächst gar nicht verstehen konnte. Doch was er dann forderte, drang zu jedem der Genossen und Genossinne­n durch: Olaf Scholz soll Kanzler werden. „Es ist ein grandioser Erfolg der SPD!“, frohlockte kurz darauf Arbeitsmin­ister Hubertus Heil, der auch einmal Generalsek­retär gewesen war.

Erinnerung an Schröder

Schon eine Stunde vorher hatte sich abgezeichn­et, was vor einem Jahr noch nicht einmal der treueste Genosse für möglich gehalten hätte: Zum ersten Mal seit 2005 wurde die SPD wieder als stärkste Kraft zwischen Watzmann und Wattenmeer gehandelt. Auch freute man sich über das regionale Abschneide­n der SPD in Mecklenbur­g-Vorpommern und in der Hauptstadt Berlin.

Die Union, die in Person von Angela Merkel 16 Jahre lang Deutschlan­d regierte, ist aus Sicht der Sozialdemo­kraten geschlagen. Was zu Beginn des Jahrtausen­ds, als die SPD mit

Gerhard Schröder zuletzt den Kanzler stellte, noch als blamables Ergebnis gegolten hätte, reicht für Scholz heute, 16 Jahre später, möglicherw­eise für Platz eins, aber gefühlt am Wahlabend schon für einen Sieg.

Im Tal der Tränen

Das Tal der Tränen, das die älteste deutsche Partei seit mehr als eineinhalb Jahrzehnte­n schon durchwande­rt, an diesem lauen Herbstaben­d scheint es ganz weit weg. Vier Bundestags­wahlen hintereina­nder waren zuvor für die Roten verloren gegangen – jedes Mal ging Angela Merkel als Siegerin hervor. 2005 trat noch Schröder selbst an, 2009 versuchte es Frank-Walter Steinmeier, 2013 Peer Steinbrück und 2017 schließlic­h scheiterte Martin Schulz an Merkel.

Ob sich nun Olaf Scholz weitere vier Jahre später tatsächlic­h auf dem Gipfel wiederfind­et – im Bundeskanz­leramt nämlich –, ist indes unklar. Zu groß gestaltete sich am Sonntag noch die Bandbreite an möglichen Koalitione­n. Und längst nicht alle würden sich mit einem SPD-Kanzler abfinden. Allzu viele Gedanken daran werden an diesem Abend in der festlich geschmückt­en SPD-Zentrale aber wohl nicht verschwend­et.

Schließlic­h hatte es in diesem Wahlkampf lange ganz und gar nicht danach ausgesehen, als könne der gebürtige Osnabrücke­r die gebeutelte­n Sozialdemo­kraten überhaupt wieder an die Spitze heranführe­n. Lange grundelte die einst so stolze Volksparte­i in Umfragen hinter Union und Grünen herum, erst im Sommer gelang Scholz, dessen eigene Beliebthei­tswerte bis heute weit vor jenen der SPD lagen, die Trendwende.

Der frühe Vogel

Das sie trotz der zuletzt in Umfragen erstarkten Union bis zum Wahltag anhielt, ist auch dem politische­n Geschick der linken Parteiführ­ung zuzuschrei­ben. Anders als die Konkurrenz legten sich die Genossinne­n und Genossen, die seit 2019 unter dem Kommando des Spitzenduo­s Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans stehen, schon im Sommer 2020 auf den Parteirech­ten Scholz als Kanzlerkan­didaten fest. Ein Jahr zuvor hatte dieser noch selbst versucht, die Parteiführ­ung an sich zu reißen – und den Kürzeren gezogen.

Während man bei Union und Grünen bis in den Frühling hinein um Pfründe, Posten und Positionen rang, schaltete Scholz von Beginn an in den Turbomodus. Immer und immer

wieder setzte sich der 63-Jährige als logischer Kronprinz Angela Merkels in Szene – fast so, als gehöre sie nicht der CDU, sondern so wie Scholz der SPD an. „Angela der Zweite“nannte der Spiegel den Sozialdemo­kraten im Sommer dann auch süffisant.

Im Wahlkampfe­ndspurt ließ der es sich schließlic­h nicht nehmen, im SZ-Magazin samt Merkels ikonischer Raute zu posieren. „Erbschleic­herei“nannte CSU-Chef Markus Söder Scholz’ Chuzpe erbost – und muss wie auch der Rest der gedemütigt­en Union erkennen, dass Scholz’ erstaunlic­he Neuerfindu­ng zum pragmatisc­hen Chefkonser­vator der nach wie vor populären Kanzlerin tatsächlic­h verfangen hat.

Panne bei Laschet

Für den Kanzlerkan­didaten der Union hatte der Wahltag mit einer Panne begonnen. Er war in seiner Heimatstad­t Aachen wählen gegangen und posierte dann beim Einwurf seines Wahlzettel­s für die Fotografen. Man konnte sich natürlich vorstellen, wem Laschet seine Stimme geben würde: sich selbst und der CDU.

Doch dies wurde dann auch dokumentar­isch festgehalt­en: Laschet nämlich faltete den Stimmzette­l falsch. So, dass man sehen konnte, wie er seine Wahl getroffen hatte. Ein Lapsus, denn eigentlich ist die Wahl in Deutschlan­d geheim. Im Paragraf 56 der Bundeswahl­ordnung steht in 2. Absatz: „Der Wähler begibt sich in die Wahlkabine, kennzeichn­et dort seinen Stimmzette­l und faltet ihn dort in der Weise, dass seine Stimmabgab­e nicht erkennbar ist.“

Böse Zungen lästerten daraufhin, dass dies jetzt irgendwie typisch sei – ein weiterer Fehler in einer langen Kette von Schwierigk­eiten auf dem Weg Richtung Bundeskanz­leramt.

Viele Machtkämpf­e

Laschet musste ja zunächst einmal CDUChef werden und darum schon kämpfen. Denn der ehemalige Umweltmini­ster Norbert Röttgen und Ex-Unions-Fraktionsc­hef Friedrich Merz hatten das gleiche Ziel. Laschet setzte sich knapp durch, das kostete ihn schon einige Kraft.

Kaum hatte er den CDU-Vorsitz in der Tasche, wartete schon der nächste Machtkampf

auf ihn: Der CSU-Vorsitzend­e Markus Söder meldete seinen Anspruch auf die gemeinsame Unions-Kanzlerkan­didatur an. Laschet lieferte sich mit dem Bayern einen erbitterte­n Machtkampf, hatte aber letztendli­ch die besseren Nerven.

Doch dann kam seine Wahlkampag­ne nicht in Schwung. Das Wahlprogra­mm wurde spät präsentier­t und von vielen als zu vage und nicht besonders ambitionie­rt eingestuft. „Laschet ist eigentlich ein Teamplayer, ein Team zusammenzu­halten, das ist seine große Stärke, ich wundere mich, dass das im Wahlkampf nicht stärker herausgest­ellt wurde“, sagt sein Biograf Tobias Blasius zum

STANDARD.

Zwar präsentier­te Laschet eine Mannschaft. Aber das geschah sehr spät, als er schon gewaltig unter Druck war. Außer Friedrich Merz waren auch keine sehr bekannten Namen dabei. Bei den TV-Triellen präsentier­te sich Laschet, dem klar war, dass er Boden gutzumache­n hatte, recht angriffig. Doch er konnte nicht so stark punkten wie sein SPD-Herausford­erer Olaf Scholz, der laut Blitzumfra­gen im Anschluss an die Trielle alle drei gewonnen hat.

Merkel griff spät ein

Die scheidende Kanzlerin Angela Merkel hatte sich zunächst im Wahlkampf überhaupt zurückgeha­lten. Erst in der letzten Woche vor der Wahl war sie bereit, mit Laschet auf die Marktplätz­e zu gehen – und es waren auch nur zwei.

Wenige Tage vor der Wahl traten die beiden in Merkels Wahlkreis in Mecklenbur­gVorpommer­n auf, wurden dort aber mit Pfiffen empfangen. Und am Samstag, nur einen Tag vor der Wahl, erschien Merkel mit Laschet noch in dessen Heimatstad­t Aachen.

„Es geht morgen darum, dass Deutschlan­d stabil bleibt, deshalb beide Stimmen für die CDU“, sagte Merkel bei diesem letzten gemeinsame­n Wahlkampfa­uftritt zusammen mit Laschet. Und Laschet wies darauf hin, dass Merkel auch 2017, einen Tag vor der Landtagswa­hl in Nordrhein-Westfalen, noch für ihn geworben hatte. Am nächsten Tag sei die CDU dann stärkste Kraft geworden, RotGrün wurde abgewählt. Wenig später war Laschet Ministerpr­äsident von NordrheinW­estfalen.

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Fotos: Reuters, Imago
Ob Armin Laschet (CDU) oder Olaf Scholz (SPD) der nächste deutsche Kanzler wird (v. li.), war am Wahlabend völlig unklar. Die Regierungs­bildung wird komplizier­t. Fotos: Reuters, Imago
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Er hat seine Umfragewer­te offenbar über die Ziellinie gebracht. Mit diesem Ergebnis hätte noch zu Beginn des Sommers kaum jemand gerechnet.
SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz konnte nach den ersten Hochrechnu­ngen aufatmen. Er hat seine Umfragewer­te offenbar über die Ziellinie gebracht. Mit diesem Ergebnis hätte noch zu Beginn des Sommers kaum jemand gerechnet.
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Foto: AFP / Thilo Schmügen Armin Laschet hat seinen Wahlzettel so gefaltet, dass die Kreuze, die er bei der CDU gemacht hat, deutlich zu erkennen waren. Er wurde – nicht ganz unerwartet – dabei fotografie­rt.
 ?? ?? Armin Laschet erreichte am Sonntag das historisch schlechtes­te Ergebnis seiner Partei. Trotzdem übertraf er die Erwartunge­n nach den letzten Umfragen.
Armin Laschet erreichte am Sonntag das historisch schlechtes­te Ergebnis seiner Partei. Trotzdem übertraf er die Erwartunge­n nach den letzten Umfragen.

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