SPD und Union fast gleichauf bei Bundestagswahl
CDU-Verluste etwas geringer als erwartet Koalitionsfrage ist völlig offen
Berlin – Einen spannenden Wahlkrimi lieferte das Nachbarland Deutschland am Sonntag. Nach ersten Prognosen lagen die SPD mit Spitzenkandidat Olaf Scholz und die Union von CDU/CSU mit Armin Laschet gleichauf. Die Union erlitt jedenfalls empfindliche Verluste und damit das historisch schlechteste Ergebnis seit ihrem Bestehen. Auf dem dritten Platz rangierten die Grünen mit Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Die rechtspopulistische AfD lieferte sich ein Kopf-anKopf-Rennen mit der FDP, die zum zweiten Mal bei Bundestagswahlen ein zweistelliges Ergebnis einfuhr.
Die Koalitionsfrage war jedenfalls am Abend offen. Mehrere Varianten sind möglich. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak brachte aber bereits eine Jamaika-Koalition zwischen Union, Grünen und FDP ins Gespräch.
In seiner ersten Rede nach Wahlschluss meldete Laschet den Kanzleranspruch an – obwohl Hochrechnungen eine solche Festlegung noch lange nicht rechtfertigen konnten. Für Aufregung sorgte, dass Laschet seinen Wahlzettel so einwarf, dass die Kreuze für die Fotografen sichtbar waren.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sah jedenfalls umgehend einen Regierungsauftrag für die Sozialdemokraten: „Die SPD ist wieder da“, sagte er im ZDF. „Wir wollen, dass Olaf Scholz Kanzler wird.“
Neben dem Bundestag wählten die Berliner auch das Abgeordnetenhaus neu. Dort kam es nach ersten Prognosen zu einem überraschend starken Abschneiden der grünen Kandidatin Bettina Jarasch. (red)
Stille, absolute Stille. Es war nichts zu hören in der CDU-Zentrale, als am Sonntag um 18 Uhr die ersten Prognosen verkündet wurden. Und das Schweigen hielt auch noch an, als dann vom historisch schlechtesten Wahlergebnis die Rede war. Erst als verkündet wurde, dass es so aussieht, als reiche es nicht für ein rot-rotgrünes Bündnis – also ein linkes ohne Union –, da brach Applaus los.
Dennoch war CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sofort zur Stelle und räumte ein: „Das tut weh.“Doch er erklärte auch: „Das wird ein langer Wahlabend sein.“Er fand auch etwas Positives im schlechten Wahlergebnis: „Man kann sehen, dass wir eine Aufholjagd hingelegt haben.“Und er meinte auch, es gehe jetzt darum, eine „Zukunftskoaliton aus Union, Grünen und FDP“zu bilden.
Auch CSU-Generalsekretär Markus Blume stieß wenig später in München, in äußerst gedämpfter Laune, ins selbe Horn. Es gelte jetzt, eine „bürgerliche Regierung“zu bilden; damit spielte er natürlich auch auf ein JamaikaBündnis aus Union (schwarz), Grünen und FDP (gelb) an.
Ganz anders war die Stimmung bei den Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus. Der
Stein, der so von mancher Genossin und so manchem Genossen vom Herzen gefallen sein muss, dürfte in seiner Dimension einem mittleren Gebirgsstock nahekommen.
Als Generalsekretär Lars Klingbeil auf die Bühne kam, war der Jubel so laut, dass man Klingbeil zunächst gar nicht verstehen konnte. Doch was er dann forderte, drang zu jedem der Genossen und Genossinnen durch: Olaf Scholz soll Kanzler werden. „Es ist ein grandioser Erfolg der SPD!“, frohlockte kurz darauf Arbeitsminister Hubertus Heil, der auch einmal Generalsekretär gewesen war.
Erinnerung an Schröder
Schon eine Stunde vorher hatte sich abgezeichnet, was vor einem Jahr noch nicht einmal der treueste Genosse für möglich gehalten hätte: Zum ersten Mal seit 2005 wurde die SPD wieder als stärkste Kraft zwischen Watzmann und Wattenmeer gehandelt. Auch freute man sich über das regionale Abschneiden der SPD in Mecklenburg-Vorpommern und in der Hauptstadt Berlin.
Die Union, die in Person von Angela Merkel 16 Jahre lang Deutschland regierte, ist aus Sicht der Sozialdemokraten geschlagen. Was zu Beginn des Jahrtausends, als die SPD mit
Gerhard Schröder zuletzt den Kanzler stellte, noch als blamables Ergebnis gegolten hätte, reicht für Scholz heute, 16 Jahre später, möglicherweise für Platz eins, aber gefühlt am Wahlabend schon für einen Sieg.
Im Tal der Tränen
Das Tal der Tränen, das die älteste deutsche Partei seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten schon durchwandert, an diesem lauen Herbstabend scheint es ganz weit weg. Vier Bundestagswahlen hintereinander waren zuvor für die Roten verloren gegangen – jedes Mal ging Angela Merkel als Siegerin hervor. 2005 trat noch Schröder selbst an, 2009 versuchte es Frank-Walter Steinmeier, 2013 Peer Steinbrück und 2017 schließlich scheiterte Martin Schulz an Merkel.
Ob sich nun Olaf Scholz weitere vier Jahre später tatsächlich auf dem Gipfel wiederfindet – im Bundeskanzleramt nämlich –, ist indes unklar. Zu groß gestaltete sich am Sonntag noch die Bandbreite an möglichen Koalitionen. Und längst nicht alle würden sich mit einem SPD-Kanzler abfinden. Allzu viele Gedanken daran werden an diesem Abend in der festlich geschmückten SPD-Zentrale aber wohl nicht verschwendet.
Schließlich hatte es in diesem Wahlkampf lange ganz und gar nicht danach ausgesehen, als könne der gebürtige Osnabrücker die gebeutelten Sozialdemokraten überhaupt wieder an die Spitze heranführen. Lange grundelte die einst so stolze Volkspartei in Umfragen hinter Union und Grünen herum, erst im Sommer gelang Scholz, dessen eigene Beliebtheitswerte bis heute weit vor jenen der SPD lagen, die Trendwende.
Der frühe Vogel
Das sie trotz der zuletzt in Umfragen erstarkten Union bis zum Wahltag anhielt, ist auch dem politischen Geschick der linken Parteiführung zuzuschreiben. Anders als die Konkurrenz legten sich die Genossinnen und Genossen, die seit 2019 unter dem Kommando des Spitzenduos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans stehen, schon im Sommer 2020 auf den Parteirechten Scholz als Kanzlerkandidaten fest. Ein Jahr zuvor hatte dieser noch selbst versucht, die Parteiführung an sich zu reißen – und den Kürzeren gezogen.
Während man bei Union und Grünen bis in den Frühling hinein um Pfründe, Posten und Positionen rang, schaltete Scholz von Beginn an in den Turbomodus. Immer und immer
wieder setzte sich der 63-Jährige als logischer Kronprinz Angela Merkels in Szene – fast so, als gehöre sie nicht der CDU, sondern so wie Scholz der SPD an. „Angela der Zweite“nannte der Spiegel den Sozialdemokraten im Sommer dann auch süffisant.
Im Wahlkampfendspurt ließ der es sich schließlich nicht nehmen, im SZ-Magazin samt Merkels ikonischer Raute zu posieren. „Erbschleicherei“nannte CSU-Chef Markus Söder Scholz’ Chuzpe erbost – und muss wie auch der Rest der gedemütigten Union erkennen, dass Scholz’ erstaunliche Neuerfindung zum pragmatischen Chefkonservator der nach wie vor populären Kanzlerin tatsächlich verfangen hat.
Panne bei Laschet
Für den Kanzlerkandidaten der Union hatte der Wahltag mit einer Panne begonnen. Er war in seiner Heimatstadt Aachen wählen gegangen und posierte dann beim Einwurf seines Wahlzettels für die Fotografen. Man konnte sich natürlich vorstellen, wem Laschet seine Stimme geben würde: sich selbst und der CDU.
Doch dies wurde dann auch dokumentarisch festgehalten: Laschet nämlich faltete den Stimmzettel falsch. So, dass man sehen konnte, wie er seine Wahl getroffen hatte. Ein Lapsus, denn eigentlich ist die Wahl in Deutschland geheim. Im Paragraf 56 der Bundeswahlordnung steht in 2. Absatz: „Der Wähler begibt sich in die Wahlkabine, kennzeichnet dort seinen Stimmzettel und faltet ihn dort in der Weise, dass seine Stimmabgabe nicht erkennbar ist.“
Böse Zungen lästerten daraufhin, dass dies jetzt irgendwie typisch sei – ein weiterer Fehler in einer langen Kette von Schwierigkeiten auf dem Weg Richtung Bundeskanzleramt.
Viele Machtkämpfe
Laschet musste ja zunächst einmal CDUChef werden und darum schon kämpfen. Denn der ehemalige Umweltminister Norbert Röttgen und Ex-Unions-Fraktionschef Friedrich Merz hatten das gleiche Ziel. Laschet setzte sich knapp durch, das kostete ihn schon einige Kraft.
Kaum hatte er den CDU-Vorsitz in der Tasche, wartete schon der nächste Machtkampf
auf ihn: Der CSU-Vorsitzende Markus Söder meldete seinen Anspruch auf die gemeinsame Unions-Kanzlerkandidatur an. Laschet lieferte sich mit dem Bayern einen erbitterten Machtkampf, hatte aber letztendlich die besseren Nerven.
Doch dann kam seine Wahlkampagne nicht in Schwung. Das Wahlprogramm wurde spät präsentiert und von vielen als zu vage und nicht besonders ambitioniert eingestuft. „Laschet ist eigentlich ein Teamplayer, ein Team zusammenzuhalten, das ist seine große Stärke, ich wundere mich, dass das im Wahlkampf nicht stärker herausgestellt wurde“, sagt sein Biograf Tobias Blasius zum
STANDARD.
Zwar präsentierte Laschet eine Mannschaft. Aber das geschah sehr spät, als er schon gewaltig unter Druck war. Außer Friedrich Merz waren auch keine sehr bekannten Namen dabei. Bei den TV-Triellen präsentierte sich Laschet, dem klar war, dass er Boden gutzumachen hatte, recht angriffig. Doch er konnte nicht so stark punkten wie sein SPD-Herausforderer Olaf Scholz, der laut Blitzumfragen im Anschluss an die Trielle alle drei gewonnen hat.
Merkel griff spät ein
Die scheidende Kanzlerin Angela Merkel hatte sich zunächst im Wahlkampf überhaupt zurückgehalten. Erst in der letzten Woche vor der Wahl war sie bereit, mit Laschet auf die Marktplätze zu gehen – und es waren auch nur zwei.
Wenige Tage vor der Wahl traten die beiden in Merkels Wahlkreis in MecklenburgVorpommern auf, wurden dort aber mit Pfiffen empfangen. Und am Samstag, nur einen Tag vor der Wahl, erschien Merkel mit Laschet noch in dessen Heimatstadt Aachen.
„Es geht morgen darum, dass Deutschland stabil bleibt, deshalb beide Stimmen für die CDU“, sagte Merkel bei diesem letzten gemeinsamen Wahlkampfauftritt zusammen mit Laschet. Und Laschet wies darauf hin, dass Merkel auch 2017, einen Tag vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, noch für ihn geworben hatte. Am nächsten Tag sei die CDU dann stärkste Kraft geworden, RotGrün wurde abgewählt. Wenig später war Laschet Ministerpräsident von NordrheinWestfalen.