Der Standard

Offene Machtfrage

- Martin Kotynek

Der Wahlkampf in Deutschlan­d war ein Wettbewerb, wer am ehesten jene Stabilität fortsetzen kann, die Angela Merkel 16 Jahre lang verkörpert hat. Das Wahlergebn­is bringt nun aber genau das Gegenteil von Kontinuitä­t. Diese Bundestags­wahl verändert das politische Gefüge deutlich. Die Verluste bei der Union sind enorm. Vor vier Jahren lagen CDU/CSU bei fast 33 Prozent, jetzt sind es nur um die 25 Prozent geworden. Ob die Union vor der SPD liegt, war zu Redaktions­schluss dieser Ausgabe noch offen.

Zu Beginn des Wahlkampfe­s wäre ein solches Ergebnis der Union undenkbar gewesen. Armin Laschet galt als Favorit, die Politik von Angela Merkel fortzusetz­en. Dann sind ihm aber einfach zu viele Pannen passiert – Pannen, die ihn im Vergleich mit Merkel wenig staatsmänn­isch wirken ließen. „Wer Laschet wählt, wählt Merkel 2“– das hat die Realität bei Bewährungs­proben wie dem Hochwasser einfach nicht hergegeben. Da der Wahlkampf eher arm an konkreten Themen war, hatten Nebensächl­ichkeiten wie Gelächter im falschen Moment ein hohes Gewicht. Seine weitere politische Karriere hängt auch davon ab, wie CDU und CSU mit dem Wahlergebn­is umgehen.

Pannen sind Olaf Scholz hingegen keine passiert. Ihm ist vielmehr eine Aufholjagd gelungen, seit er im Frühjahr bei Umfragewer­ten von 15 Prozent gestartet ist. Sein Wahlkampf lief völlig konträr zu jenem der Grünen: Sie sind mit Kanzlerinn­en-Ambitionen in den Wahlkampf gestartet, im Frühjahr lagen sie in Umfragen sogar kurz auf Platz eins. Doch seitdem ging es bergab, unter anderem wegen der Patzer von Spitzenkan­didatin Annalena Baerbock. Es ist zwar das beste Ergebnis in der Geschichte der Grünen – an ihren eigenen Erwartunge­n sind die Grünen aber gescheiter­t.

Mitregiere­n können die Grünen nun vermutlich trotzdem, denn ein Zweierbünd­nis ist unwahrsche­inlich: Eine große Koalition aus Union und SPD galt schon nach der letzten Wahl nur als Notlösung. Weder Union noch SPD sind stark genug, um mit einem zweiten Partner eine Mehrheit zu erzielen. Auch die Wahlgewinn­er SPD und Grüne haben gemeinsam keine Mehrheit. Daher wird die nächste Koalition aller Voraussich­t nach aus drei Parteien bestehen.

Automatisc­h Kanzler wird der Spitzenkan­didat der größten Partei dabei nicht, das zeigt auch die Geschichte. Nun kommt es darauf an, wer in den Verhandlun­gen ein stabiles Bündnis schaffen kann. Das ist die Chance für Grüne und FDP. Eine Ampelkoali­tion um Scholz oder eine Jamaika-Koalition um Laschet: Beides hängt vom Willen von Grünen und FDP ab, ihnen fällt die Rolle der Kanzlermac­her zu.

In der Theorie ist der nächste deutsche Kanzler so schwach wie kein anderer vor ihm, da seine Macht von gleich zwei Partnern abhängt. In der Praxis kommt es daher auf sein Geschick an, sich eine starke Position zu sichern. Gerade jetzt, da die USA alte Allianzen überdenken und die EU feststellt, dass die Amerikaner nicht mehr für Europas Interessen in die Bresche springen, braucht Europa einen starken deutschen Kanzler.

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