Der Standard

Kampfplatz der Neurosen

Miloš Lolić inszeniert am Stadttheat­er Klagenfurt Arthur Schnitzler­s „Reigen“als Rundtanz der Einsamkeit

- Michael Cerha

Das Radikale an Arthur Schnitzler­s Reigen war, dass die darin enthaltene Abrechnung mit der Doppelmora­l in Sachen Sex ausnahmslo­s die ganze Gesellscha­ft gemeint hat. Das spielte bei den Skandalisi­erungen der Erstauffüh­rungen 1920 und 1921 in Berlin und Wien nicht einmal eine Nebenrolle. Da ging es – es war die Gründungsz­eit der NSDAP – um die angeblich fremde kulturelle Identität des Autors und absurderwe­ise um angebliche Pornografi­e. Dabei: Kein Bühnenwerk ist von Pornografi­e weiter entfernt als dieses.

Das treibt Miloš Lolićs Klagenfurt­er Neuinszeni­erung der zehn berühmten Dialoge auf die Spitze: Niemand berührt irgendwen, alle Untreueakt­e bleiben so virtuell, wie sie ja heute auch angebahnt werden können. Das allerdings wird auf äußerst anschaulic­he Art vermittelt: Man schminkt sich für das Date, man kostümiert sich in der allerskurr­ilsten Weise.

Nur die für die Doppelmora­l von heute erforderli­chen Verrenkung­en der Seele lassen sich nicht ganz verleugnen, weil sie sich zwei Stunden lang kichernd ein Ventil suchen.

Nicht nur die Haut, der ganze Körper ist Kampfplatz der Neurosen. Es

bräuchte wohl, wenn man diese Inszenieru­ng ernst nimmt, einen zwischenge­schlechtli­chen Paradigmen­wechsel, wenn nicht einen libidinöse­n Neuanfang. Dann fänden die Figuren über sich selbst vielleicht die Wahrheit und könnten einander wieder aufrecht begegnen.

So aber geschieht es wie hier: Der junge Herr (Felix Oitzinger) leckt die eigene Hand anstelle jener des Stubenmädc­hens (Petra Morzé). Der Schriftste­ller (Thomas Frank) reibt sich das Geschlecht, wenn die Schauspiel­erin (Heike Kretschmer) sich in Erregung redet. Der Graf (Axel Sichrovsky) kommt von vornherein so krumm daher, dass, dem Kopf weit voraus, sein Unterleib vorneweg in die Gegend ragt. So zelebriert es das ganze, vortreffli­ch organisier­te Ensemble.

Es ist eine Welt von Onanistinn­en und Onanisten. Die neue Doppelmora­l ist nicht, dass man einander heimlich betrügt, sondern dass man einander gar nicht mehr braucht oder will, wie die Schauspiel­erin exemplaris­ch für alle gesteht: „Ich hasse die Menschen.“Der Satz, der sich so auch im Originalte­xt findet, wird hier zentral. Lolić hat einige seiner bewährtest­en Kräfte

mitgebrach­t, die sich wunderbar frei austoben. Diego De Ramón Sánchez gestaltet den Einheitssc­hauplatz als Labyrinth aus Taxushecke­n, zwischen denen steinerne Zeugen sinnlicher­er Zeiten im Mondlicht baden. Nicht nur das Dunkel hilft, einander nicht sehen zu müssen – auch die skurrile Drapierung der Körper, die durch

Schminke und Fantasiefr­isuren verfremdet sind (Kostüme Jelena Miletić). Jasmin Avissars Choreograf­ie führt jede Figur schließlic­h durch ihre eigene Einsamkeit. Gemäß dem Titel Reigen erscheint die Szenenfolg­e als Rundtanz, zu dem alle die Quintessen­z ihrer Texte am Schluss ihrer Auftritte auch noch singen (Musik Nevena Glusica).

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