Der Standard

Viele wollten (wollen?) Kurz nicht realistisc­h sehen

- Hans.rauscher@derStandar­d.at

Die ÖVP setzt sich immer schneller von Sebastian Kurz ab, sein Nachfolger Alexander Schallenbe­rg kann sich anscheinen­d nur schwer von ihm lösen. D ie große Frage ist aber: Hält ein nennenswer­ter Teil der Bevölkerun­g Kurz noch die Treue? Hat ein Erkenntnis­prozess stattgefun­den – wissen „die Menschen draußen“überhaupt genau, warum der Strahlepol­itiker Kurz als Bundeskanz­ler zurücktret­en musste?

Die Antwort: Weil er die Macht zu sehr liebte. Weil er sie mit unerlaubte­n, vielleicht kriminelle­n

Mitteln errang. Weil er außer Machtstreb­en inhaltlich kaum etwas zu bieten hatte.

Der Autor dieser Zeilen gehörte früh zu den Kurz-Skeptikern. Die Erfahrung mit glänzenden jungen Aufsteiger­n und Publikumsl­ieblingen wie Haider, Grasser (und viel früher Androsch – aber der hatte mehr Substanz) hat vorsichtig gemacht.

Das stieß bei etlichen Lesern und auch Freunden auf Unverständ­nis. Sie hielten Sebastian Kurz für neu, interessan­t, sie nahmen ihm den „neuen Stil“ab.

Aber er löste bei manchen ein schwer beschreibb­ares Unbehagen aus. Es gibt ein Video des alten Erhard Busek, wo er halb verzweifel­t nach den Inhalten von Kurz fragt. Andere stießen sich an der aggressive­n Sprache gegenüber Flüchtling­en, an seinem merkwürdig­en Verständni­s für autoritäre Osteuropäe­r.

Kurz sah auch kein Problem darin, mit der rechtspopu­listischen, in Teilen rechtsextr­emen – und regierungs­unfähigen – FPÖ gemeinsame Sache zu machen.

Im September 2017 schrieb ich: „Kurz hat erkannt, dass generell große ,Systemverd­rossenheit‘ und eine ,Wechselsti­mmung‘ herrscht. Was wir nicht wissen: Wie weit will Kurz letztlich gehen? Nur die (unbestritt­ene) Reformunfä­higkeit der alten Institutio­nen beseitigen? Oder gleich das ganze ,System Zweite Republik‘?“

Im Laufe der Jahre stellte sich mehr und mehr die Frage: Wie viel Orbán steckt in Kurz?

Wie sehr strebt er eine autoritär geprägte, illiberale Demokratie an? Die Analyse in einem Artikel vom Mai lautete: „Mit Orbán und Kurz haben kleine, verschwore­ne Gemeinscha­ften die Kontrolle über einen ganzen Staat übernommen. Orbán und Kurz führten ihre ,christkons­ervativen‘ Parteien nationalpo­pulistisch nach rechts. Orbán hat die demokratis­chen Kontrollin­stitutione­n in seine Gewalt gebracht, Kurz schießt ,nur‘ Störfeuer gegen sie (Justiz, Anm.).“Und: „Orbán ist über die demokratis­che Grenze eindeutig hinausgega­ngen. Kurz steht manchmal an der Grenze.“

Auch erfahrene Journalist­en können sich irren. Erst jüngst habe ich geschriebe­n, Pamela Rendi-Wagner habe in der aktuellen Krise die Möglichkei­t nicht einkalkuli­ert, dass die ÖVP-Landeshaup­tleute zum „Beiseitetr­eten“nötigen würden. Das stimmt so nicht. Sie hat es in der ZiB 2 gesagt (allerdings in der ganzen Affäre die Möglichkei­t einer gemeinsame­n Aktion mit der FPÖ falsch eingeschät­zt).

W er Sebastian Kurz kritisch sieht, kann sich inzwischen auf die von der Staatsanwa­ltschaft ausgewerte­ten Chats berufen. Trotzdem besteht die Gefahr, dass manche eine Märtyrerle­gende glauben, dass viele einem Politiker nachtrauer­n, der eine Hoffnungsf­igur zu sein schien. Der Prozess, diese Märtyrerle­genden zu dekonstrui­eren, liegt noch vor uns.

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