Gedenken an die Opfer der Shoah
Ein „Meilenstein“auf dem „Pfad der Aufrichtigkeit“: In Wien wurde die Namensmauer für die jüdischen Opfer der Shoah eingeweiht. Politiker verschwiegen die unrühmliche Vorgeschichte nicht.
Im Wiener Ostarrichipark erinnert seit Dienstag ein Mahnmal an eines der größten Verbrechen der Geschichte: Auf der Shoah-Namensmauer sind die Namen von 64.440 in der NS-Zeit ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden eingemeißelt. Zum 83. Mal jährte sich in der Nacht auf den 10. November der Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Österreich. Ob der zunehmenden antisemitischen Tendenzen appellierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen, „wachsam zu sein und die Stimme zu erheben“.
Der Andrang ist groß, doch das Objekt des Interesses bleibt vorerst verborgen. Freundlich, aber bestimmt werden die Besucher, die den Covid-19- und Securitycheck passiert haben, zu den für sie bestimmten Plätzen im weißen Festzelt dirigiert. Nicht einmal ein verstohlener Blick durch eine durchsichtige Seitenplane ist willkommen. „Erst nach der Veranstaltung“, heißt es, „aus Sicherheitsgründen.“
Was das Publikum in den Ostarrichi-Park im Wiener Bezirk Alsergrund geführt hat, ist die Eröffnung einer neuen Gedenkstätte. Auf der der Grünfläche vor der Nationalbank erinnern fortan in einem offenen Oval gruppierte Steinmauern an österreichische Opfer der Shoah. Die Namen von 64.400 in der NSZeit ermordeten Jüdinnen und Juden sind in die Gedenktafeln aus sandsteinfarbenem Granit graviert.
Dass es diesen Ort zum Erinnern nun gibt, ist zu allererst der Hartnäckigkeit eines einzelnen Mannes zu verdanken. 20 Jahre hat der gebürtige Wiener Kurt Yakov Tutter, der 1939 als Neunjähriger vor dem nationalsozialistischen
Terror geflohen war, für die Gedenkmauer gekämpft. Ihm sei es dabei nicht bloß um eine Stätte gegangen, wo Überlebende wie er mangels eines Grabes um Eltern und Angehörige trauern können, sondern genauso um all jene Familien, von denen niemand überlebt hat, erläuterte der heute 91-Jährige dem STANDARD. Bereits bestehende Denkmäler, wie etwa jenes am Judenplatz, seien „zu abstrakt“, weil ohne Namen der Opfer.
Die Politik zögerte lange
Es dauerte bis 2018, ehe die damals türkis-blaue Bundesregierung und die rot-grüne Stadtregierung Wiens konkrete Zusagen machten. Nun aber lässt sich die Politik nicht lumpen. Das Gros der Kosten von 5,3 Millionen Euro wird aus dem Bundesbudget bestritten, 600.000 Euro steuern die Länder bei. 230.000 Euro stellte die Industriellenvereinigung per Fundraising auf.
Hohe Würdenträger sind zur Einweihung am späten Nachmittag des 9. Novembers gekommen, nur Bundespräsident Alexander Van der BelGetöteten
len musste wegen eines Covid-19Falls im Büro passen. Auf Applaus nach den Reden, Lesungen und Liedern der Feier wird verzichtet.
Der älteste auf der Namensmauer verewigte Mensch, Abraham Mühlendorf, wurde an seinem 101. Geburtstag in Theresienstadt ermordet, hält Kanzler Alexander Schallenberg fest, der jüngste, Samuel Georg Sussmann, vom Auschwitzer Lagerarzt Mengele direkt nach der Geburt. Die Namensmauer entreiße all diese Namen dem Vergessen: „Wir geben ihnen ihre Identität, ihre Individualität und damit einen Teil ihrer menschlichen Würde zurück. Und sie erhalten wieder einen Platz in ihrer Heimat.“
Zu lange habe Österreich gebraucht, um die eigene Täterschaft anzuerkennen, sagt Schallenberg, um Lob für den Vorgänger anzuknüpfen. Das „Zögern und Herumdrucksen“rund um Tutters Initiative habe erst mit Sebastian Kurz (ÖVP) als Kanzler ein Ende gehabt.
Einen „Meilenstein“sieht Oskar Deutsch – „nicht nur für die jüdische Gemeinde und die Nachfahren der
in aller Welt“. Die Gedenkstätte habe das Potenzial, die gesamte Gesellschaft zu erreichen, glaubt der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde: Nach der „Lebenslüge“der reinen Opferrolle und der Verdrängung der Beteiligung an den NS-Verbrechen zeige Österreich, „dass es sich auf dem Pfad der Aufrichtigkeit befindet“.
Dies habe seine Zeit gedauert, räumt auch Wolfgang Sobotka (ÖVP) ein. Dass Tutter so lange nicht gehört wurde, sage viel über den Weg, den das Land nach dem Krieg gegangen sei: „Es ist nie zu spät, aber Österreich hat lange gebraucht, sich seiner Geschichte zu stellen.“
Nachdem die Staatsspitze unlängst Auschwitz besucht hat, wo die industrielle Vernichtung vollzogen wurde, finde man sich nun an jenem Ort ein, „von dem das Morden seinen Ausgang nahm“, fügt der Nationalratspräsident in Vertretung des Staatsoberhaupts an – ein Hinweis auf das gezielt gewählte Datum der Einweihung: Vor 83 Jahren leiteten die Novemberpogrome ein, was im Holocaust gipfelte.