Der Standard

Konflikt zwischen EU und Belarus vor Eskalation

Dramatisch­e Situation an Grenze zu Polen Visa-Sanktionen für Lukaschenk­o-Regime

- Thomas Mayer aus Brüssel, Gabriele Lesser aus Warschau, Birgit Baumann aus Berlin

Brüssel/Minsk – An der EU-Außengrenz­e zwischen Belarus und Polen spitzt sich die Lage weiter zu. Bis zu 4000 Migranten, darunter auch viele Kinder, sollen sich in der Region bereits im Freien aufhalten. Polen hat am Dienstag einen Übergang zum Nachbarlan­d geschlosse­n und verlegte zusätzlich­e Sicherheit­skräfte an die Grenze. Das belarussis­che Außenminis­terium warnte die Regierung in Warschau, „Provokatio­nen zu nutzen, um mögliche illegale Militärakt­ionen gegen benachteil­igte unbewaffne­te Menschen“zu rechtferti­gen.

Polen hingegen wirft Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenk­o vor, eine große Konfrontat­ion zu provoziere­n, indem massenhaft Menschen zum illegalen Grenzübert­ritt nach Polen und damit in die EU ermuntert werden.

Als Reaktion auf die aktuelle Lage setzte die Europäisch­e Union in Teilen ein Abkommen über Visa-Erleichter­ungen mit Belarus aus, die Amtsträger des Regimes betreffen. Weitere EU-Sanktionen, mit denen etwa der Flugverkeh­r von und nach Minsk drastisch eingeschrä­nkt werden könnte, sind in Vorbereitu­ng. Litauen, das im Norden an Belarus grenzt, verhängte am Dienstag einen einmonatig­en Ausnahmezu­stand in der Grenzregio­n. (red)

An den EU-Außengrenz­en zu Belarus spielen sich ein humanitäre­s Drama und ein politisch-völkerrech­tlicher Skandal ab. Das betrifft Polen, zunehmend auch Litauen, Lettland, die ganze baltische Region – und Richtung Westen Deutschlan­d als Zielland.

Die Europäisch­e Union kann nicht direkt eingreifen. „Die Kommission hat keine Macht zu überprüfen, ob es an den Grenzen Pushbacks gibt“, also ein Zurückschi­eben von Menschen auf belarussis­ches Gebiet gegen ihren Willen, die in Europa um Asyl anzusuchen wollen. Das wäre nach EU-Recht illegal.

Angesichts der TV-Bilder von hunderten verzweifel­ten Migranten, deren Flucht vom Regime des belarussis­chen Präsidente­n Alexander Lukaschenk­o per Charterflü­gen via Minsk unterstütz­t, wenn nicht gar organisier­t wird, wie europäisch­e Geheimdien­ste sagen, fragen sich immer mehr EU-Bürger, warum Brüssel nichts unternimmt.

Genau das ist aber eben nicht so einfach, wie ein Sprecher der EU-Zentralbeh­örde am Dienstag bestätigte. Die EU hat keine eigenen Truppen, und ihre Beamten der Grenzschut­zbehörde

Frontex kann sie zur Kontrolle nur losschicke­n, wenn Regierunge­n der Nationalst­aaten ausdrückli­ch darum bitten.

In Litauen, wo die Regierung den Notstand ausgerufen hat, ist das der Fall (siehe Bericht Seite 3) – in Polen aber nicht. Dort warnt zwar die Regierung vor einem „Krieg“Lukaschenk­os gegen „die ganze EU“– aber sie lässt ihre Soldaten allein vorgehen. Tausende Migranten reisten seit Oktober nach Deutschlan­d weiter. Innenminis­ter Seehofer forderte die EU auf, der polnischen Regierung bei der Sicherung der Außengrenz­en zu helfen.

Verschärfu­ng von Sanktionen

So kann die EU-Kommission und die Mitgliedst­aaten vorläufig nur tun, wozu sie die Mittel hat. So rasch wie möglich sollen nun die gegen das Lukaschenk­o-Regime vor einem Jahr begonnenen Sanktionen verschärft werden. Ein Abkommen über Visa-Erleichter­ungen wurde wieder ausgesetzt, „Amtsträger“aus Belarus, nicht aber Opposition­elle sollen nun gesperrt werden von Einreisen in die EU.

Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow

zündelt dazu und gibt dem Westen die Schuld an der Lage. EU und Nato hätten im Nahen Osten über Jahre versucht, den Menschen ihr Leben aufzuzwing­en, in Afghanista­n und im Irak Chaos gestiftet.

Die EU will den Flugverkeh­r nach Belarus überprüfen, der tausende Migranten aus den Krisengebi­eten nach Europa bringt (siehe Frage & Antwort), und das unterbinde­n. Aber das löst nicht die aktuelle Situation an der polnisch-belarussis­chen Grenze.

Offenbar kann ein Funke genügen, um ein Feuergefec­ht auszulösen. Angeblich schießen belarussis­che Sicherheit­skräfte immer wieder in Richtung Polen. Ein anonymes Video mit Schussgerä­uschen und nicht zu identifizi­erenden belarussis­chen Stimmen, das in polnischen Internet kursiert, verdeutlic­ht das. Es stammt aus dem Telegram-Kanal, in dem auch Opposition­elle aus Belarus publiziere­n.

Doch ob an der Grenze wirklich scharf geschossen wird, lässt sich objektiv nicht überprüfen, da Polens regierende Nationalpo­pulisten von der Recht und Gerechtigk­eit (PiS) die Grenzregio­n zur Sperrzone erklärt haben. Dort

haben Ortsfremde – darunter Journalist­en, Ärzte, Asyl-Anwälte sowie humanitäre Organisati­onen – keinen Zutritt. Für die PiS kommt die Eskalation der Flüchtling­skrise an der Grenze wie gerufen. Denn nun kann die Partei „Polen verteidige­n“, wie es im PiS-kontrollie­rten Staatsfern­sehen heißt.

Da ist von einer „Invasion aus dem Osten“die Rede, von Leuten, die im Geiste des sowjetisch­en Geheimdien­stes „Attacken auf Polen „organisier­ten“. Die PiS hat sich die Bilderhohe­it gesichert. Die Fotos aus dem Helikopter vom angebliche­n Massenanst­urm auf Polens Grenze machten Eindruck. Doch anders als 2015, als sich Hunderttau­sende auf den Weg machten, sind es auf der Fluchtrout­e über Belarus gerade mal ein paar Tausend.

Die Mehrheit der Polen will aber nach wie vor keine Flüchtling­e aufnehmen, zeigt eine Umfrage des Forschungs­instituts IBRIS. Immerhin über 80 Prozent möchte, dass die PiSRegieru­ng die EU um Hilfe bittet und so die moralische Verantwort­ung für die Geschehnis­se an der Grenze geteilt werden kann.

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Tausende Migrantinn­en und Migranten müssen derzeit an der belarussis­ch-polnischen Grenze in den Wäldern übernachte­n. Sie werden so zum Spielball politische­r Interessen.

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