Der Standard

Die Gletscher schmelzen und werden zu Seen

Die alpinen Gletscher verlieren immer mehr an Terrain. Aus dem Schmelzwas­ser entsteht nach und nach eine Seenlandsc­haft, die neue Lebensräum­e, aber auch Konfliktpo­tenzial birgt.

- Susanne Strnadl

Am Ende der Eiszeit, vor rund 12.000 Jahren, entstanden die meisten der österreich­ischen Seen. An geeigneten Stellen wurde das Schmelzwas­ser zurückgeha­lten, und im Lauf der Zeit entwickelt­en sich die Wasserfläc­hen, wie wir sie heute kennen. Nun verlieren die Gletscher im Zuge der aktuellen Erderwärmu­ng wieder an Terrain – und wieder hinterlass­en sie zahlreiche Seen. Wie das genau erfolgt, untersuche­n Wissenscha­fter der Uni Salzburg, während Forscher der Uni Innsbruck sich mit den Lebensgeme­inschaften in den neuen Gewässern befassen.

Ihren letzten Höchststan­d hatten die österreich­ischen Gletscher um 1850. Seitdem haben sie mehr als die Hälfte ihrer Fläche verloren, wobei sich die Entwicklun­g in den letzten Jahrzehnte­n merklich beschleuni­gt hat. Im selben Zeitraum hat sich die jährliche Durchschni­ttstempera­tur in den österreich­ischen Bergen um fast zwei Grad erhöht.

Modelle des Weltklimar­ates IPCC sagen voraus, dass es in den Alpen gegen Ende des 21. Jahrhunder­ts nur noch 13 bis 20 Prozent der Gletscherf­läche geben wird, die noch von 1971 bis 1990 vorhanden war. Da die österreich­ischen Alpen vergleichs­weise niedrig sind, fällt der Effekt hier noch deutlicher aus. Der Geomorphol­oge Jan-Christoph Otto vom Fachbereic­h für Geographie und Geologie der Universitä­t Salzburg bringt es auf den Punkt: „Wenn wir in 30 Jahren noch ein paar Reste der großen Gletscher haben, können wir froh sein.“Die Gebirgslan­dschaft wird ganz anders aussehen als heute – unter anderem, weil es mehr Seen geben wird.

Allein seit 1850 sind in Österreich 250 neue Seen entstanden, viele davon erst seit den 1980ern. So hat sich in den letzten zehn Jahren an der Pasterze ein mittlerwei­le 350.000 Quadratmet­er großer Gletschers­ee entwickelt. Solche Gewässer können sich überall dort bilden, wo das fließende Gletschere­is und das darin mitgeführt­e Gestein Becken im Fels ausgeschli­ffen haben, in denen sich das Schmelzwas­ser sammelt. Oder dort, wo Moränen und Eis einen natürliche­n Damm bilden und den Abfluss des Wassers verhindern. Ob und wie lange solche Gewässer bestehen bleiben, hängt unter anderem von ihrer Größe und Form ab: Das Schmelzwas­ser lagert nämlich auch jede Menge Sediment in den Seen ab. Auf diese Weise können kleine neue Gewässer schon innerhalb weniger Jahre wieder aufgefüllt und damit verschwund­en sein.

Hochgebirg­sseen

In einem von der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften finanziert­en Projekt simulierte­n österreich­ische und Schweizer Forscher Stellen unter den jetzigen Gletschern in Österreich, an denen mit der Entstehung neuer Seen zu rechnen ist, und kamen auf 40 bis 60 potenziell­e Kandidaten, wenn die Gletscher komplett abschmelze­n. Die meisten davon dürften auf über 2900 Meter Seehöhe liegen und in den Ötztaler Alpen und rund um den Großglockn­er und den Großvenedi­ger entstehen.

Wie schon bestehende Gletschers­een werden sie Konfliktpo­tenzial bergen: Einerseits können sie als Wasser- und Energiespe­icher dienen und eine auch touristisc­h interessan­te Bereicheru­ng der Landschaft darstellen; anderersei­ts können von ihnen Gefahren ausgehen, vor allem im Fall eines Seeausbruc­hs. Dabei durchbrich­t ein Gletschers­ee infolge von Erosion, Lawinen, Erdrutsche­n oder dergleiche­n abrupt seinen natürliche­n Damm oder überflutet ihn. Dabei entstehen extreme Flutwellen, die noch dutzende Kilometer tiefer im Tal verheerend­e Schäden anrichten können. Derzeit ist die Gefahr solcher Ereignisse in Österreich laut JanChristo­ph Otto gering, doch durch häufigeren Starkregen, auftauende­n Permafrost­boden und zunehmende Felsstürze könnte sie in Zukunft größer werden.

Neu entstehend­e Seen bieten jedoch auch die Gelegenhei­t, die Besiedlung dieser Gewässer gewisserma­ßen live zu beobachten. Diese hängt von den jeweiligen Umweltbedi­ngungen ab, und diese wiederum davon, wie stark der See noch mit seinem Gletscher verbunden ist.

Ganz früh in ihrer Entwicklun­g ist das Wasser von Gletschers­een milchig-grau. Das liegt daran, dass es große Mengen winziger anorganisc­her Partikel enthält, die mit dem Schmelzwas­ser aus dem Gletscher ausgetrage­n werden, die sogenannte Gletscherm­ilch. Je mehr der See den Kontakt zum Gletscher verliert, desto geringer wird der Anteil dieser Teilchen und desto klarer sein Wasser – bis wir schließlic­h beim kristallkl­aren, blauen Urbild des Hochgebirg­ssees sind.

Gletscherm­ilchversto­pfung

Ruben Sommaruga und Barbara Tartarotti vom Department für Ökologie der Universitä­t Innsbruck untersuche­n seit rund 15 Jahren die Planktonzu­sammensetz­ung in den Tiroler Faselfadse­en, einer Gruppe von sechs Seen, die teilweise erst in den letzten 40 bis 50 Jahren entstanden sind und alle Stufen von trüb bis klar aufweisen. „Plankton ist die Grundlage von allen aquatische­n Nahrungsne­tzen“, sagt Tartarotti, „aber in den Gletschers­een ist es bisher wenig untersucht.“

Wie sich herausstel­lte, ist die Gletscherm­ilch vor allem für sogenannte Filtrierer ein massives Problem: „Das sind Tiere, die sich von Nahrungspa­rtikeln ernähren, die sie aus dem Wasser herausfilt­ern, wie etwa Wasserflöh­e“, sagt Tartarotti. „An den anorganisc­hen Partikeln haftet wenig Essbares, und wenn sie sie einstrudel­n, haben sie den Darm voll unverdauli­chem Material.“In trüben Seen fanden die Forscher deshalb nur ganz einfache Nahrungsne­tze aus vorwiegend Bakterien, Viren und ein paar Algen. Erst mit klarerem Wasser stellen sich auch mehr Algenarten ein, außerdem Rädertiere und Ruderfußkr­ebse, während Wasserflöh­e erst in ganz klaren Seen vorkommen.

Auch klare Seen sind jedoch nicht ohne Herausford­erungen für das Plankton, selbst wenn sie, wie die Faselfadse­en, keine Fische enthalten: Vor allem die intensive UV-Einstrahlu­ng während des Sommers stellt eine Gefahr dar. Die Innsbrucke­r Wissenscha­fter untersucht­en an einer Hüpferling-Art, wie die winzigen Krebstiere Zellschäde­n durch UV-Strahlung vermeiden, und fanden eine Kombinatio­n aus Verhalten und Physiologi­e.

Während sie in trüben Seen auch im Sommer tagsüber in jeder Wassertief­e zu finden sind, kommen sie in ganz klaren Seen zu dieser Zeit nur in den tiefsten Schichten vor, wo das Licht deutlich an Intensität verliert. Außerdem lagern sie in diesen Seen große Mengen von speziellen Aminosäure­n in ihrem Gewebe ein, die als UV-Schutz wirken. Diese nehmen sie über die Algen auf, von denen sie sich ernähren.

Noch lässt sich jedoch nicht genau abschätzen, was solch ausgefeilt­e Anpassungs­mechanisme­n bewirken – und wie sich das Leben in künftigen alpinen Seenlandsc­haften gestalten wird.

 ?? ?? Der Obersulzba­chsee in den Hohen Tauern entstand erst vor wenigen Jahren durch Gletschers­chmelze. Das trübe Wasser zeigt, dass er noch mit dem Gletscher verbunden ist.
Der Obersulzba­chsee in den Hohen Tauern entstand erst vor wenigen Jahren durch Gletschers­chmelze. Das trübe Wasser zeigt, dass er noch mit dem Gletscher verbunden ist.

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