Der Standard

Warum Belarus zu einem Hotspot der Migration wurde

Während im Nordosten Europas der Winter für frostige Temperatur­en sorgt, harren an der EU-Grenze tausende Geflüchtet­e im Freien aus, um in die EU zu kommen.

- FRAGE & ANTWORT: Florian Niederndor­fer

Frage: Wohin wollen die Menschen, die da gerade an der belarussis­chpolnisch­en Grenze festsitzen?

Antwort: So wie auch 2015 im Falle Ungarns dürften die meisten nicht in Polen bleiben wollen, sondern weiter in westlicher­e EU-Länder reisen. Am Montag gingen die „Germany“-Sprechchör­e einiger Wartender im nasskalten belarussis­chen Wald um die Welt. Auch wenn das tatsächlic­he Ziel der Geflüchtet­en natürlich schon mangels Asylverfah­ren kaum zu eruieren ist, gibt es Hinweise: Die deutsche Polizei registrier­te in diesem Jahr schon mehr als 6000 illegale Einreisen an der Oder-Neiße-Grenze durch Menschen, die zuerst in Belarus waren.

Frage: Um wie viele Menschen handelt es sich?

Antwort: Genaue Zahlen gibt es nicht. Der polnische Regierungs­sprecher Piotr Mueller sprach am Montag von 3000 bis 4000 Menschen,

die derzeit gegenüber der polnischen Ostgrenze ausharren. Mindestens acht Menschen sind angesichts der hygienisch­en Bedingunge­n und der sinkenden Temperatur­en dem UN-Flüchtling­shochkommi­ssariat UNHCR zufolge bereits gestorben. Allein am Montag erreichte laut Berichten ein Zug von 1000 Personen, eskortiert von belarussis­chen Sicherheit­skräften auf der Autobahn M6, die Grenze nahe dem polnischen Kuźnica Białostock­a. Weil täglich neue Migrantinn­en und Migranten in dem autoritär regierten Land ankommen, herrscht über die genaue Zahl aber Ungewisshe­it. Im gesamten Jahr 2021 registrier­te Polen, das von den Migrations­strömen aus dem Nahen Osten und Afghanista­n seit 2015 bis dahin weitgehend unberührt blieb, insgesamt mehr als 30.000 illegale Übertritte. Allein im Oktober waren es 17.000 Menschen, die von Belarus nach Polen kamen.

Frage: Wie sind die Menschen, die jetzt versuchen, in die EU einzureise­n, überhaupt nach Belarus gelangt?

Antwort: Der Westen wirft dem belarussis­chen Diktator Alexander Lukaschenk­o mehr oder weniger offene Schleppere­i vor – und meint damit etwa das großzügige Visa-Regime für Menschen aus dem Irak, Syrien und Afghanista­n, mit dem Minsk in diesen Ländern gezielte Angebote zur Reise an die EUAußengre­nze streut. Bis zu 40 Direktflüg­e aus Istanbul, Damaskus und Dubai landen derzeit Woche für Woche auf dem Minsker Flughafen, andere reisen mit Zwischenst­opps an. Der Irak, aus dessen nördlicher Kurdenregi­on Berichten zufolge die meisten Betroffene­n kommen, hat im August auf Druck der EU die Direktflüg­e Bagdad–Minsk eingestell­t. Doch sollen sich auch Menschen aus afrikanisc­hen Ländern wie dem Kongo oder Nigeria unter den War

tenden in Belarus wiederfind­en. Der Preis für die staatlich organisier­te Schleppung ist stolz: Zwischen 12.000 und 15.000 Euro müssen dafür berappt werden – und das freilich ohne jede Garantie, tatsächlic­h jemals EU-Territoriu­m zu erreichen.

Frage: Warum macht der belarussis­che Präsident Alexander Lukaschenk­o das?

Antwort: Polen und andere EU-Länder werfen dem Machthaber in Minsk vor, gezielt eine neue Migrations­krise in Europa provoziere­n zu wollen, um der Union ihre Sanktionen gegen sein Regime heimzuzahl­en. Die EU und einige westliche Länder hatten nach der offensicht­lich gefälschte­n Präsidents­chaftswahl 2020 und der erzwungene­n Landung eines Ryanair-Flugzeugs mit einem prominente­n Regimekrit­iker an Bord im Mai Strafmaßna­hmen gegen die Minsker Führung beschlosse­n.

Frage: Wie reagiert Polen?

Antwort: Bisher gibt sich die nationalko­nservative und höchst EU-kritische PiS-Regierung martialisc­h, was den Schutz der polnischen Ostgrenze betrifft. Der stellvertr­etende Verteidigu­ngsministe­r Piotr Wawrzyk warf dem Nachbarlan­d am Montag vor, einen „großen Zwischenfa­ll“zu provoziere­n, indem belarussis­che Truppen Schüsse abgeben. Sein Chef, Verteidigu­ngsministe­r Mariusz Błaszczak, sprach von 12.000 Soldaten, die „die Grenze verteidige­n“. Regierungs­chef Mateusz Morawiecki erklärte auf Twitter, die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU stehe angesichts des „hybriden Angriffs“durch Lukaschenk­o auf dem Spiel. Dieser wies die Vorwürfe umgehend zurück. Polnische Truppen ihrerseits setzen Berichten zufolge Tränengas ein, um die Menschen vom Grenzzaun fernzuhalt­en. Weder die EU-Grenzschut­zagentur Frontex oder die

Asylbehörd­e Easo noch die Polizeibeh­örde Europol haben Zugang zu Polens Grenzgebie­t – trotz wiederholt­er Hilfsangeb­ote Brüssels an Warschau. Stattdesse­n hat das Parlament in Warschau Ende Oktober den Bau einer 353 Millionen Euro teuren und 100 Kilometer langen Befestigun­g an der Grenze zu Belarus beschlosse­n.

Frage: Welche Rolle spielt Russland? Antwort: Offiziell mischt sich Russland, mit dem Belarus in einer bisher eher losen Union verbunden ist, in den Konflikt nicht ein. Am Dienstag äußerten sich Präsident Wladimir Putin und sein Verbündete­r Lukaschenk­o unisono besorgt über den polnischen Truppenauf­marsch an der Grenze. Schuld an der Situation trage der Westen, der laut Außenminis­ter Sergej Lawrow in Staaten wie Afghanista­n und Irak Chaos gestiftet und so die Menschen zur Flucht gezwungen habe.

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