Der Standard

Die Wiener Völkerkund­e unter dem Hakenkreuz

Ein dreibändig­es Großwerk rekonstrui­ert auf mehr als 1700 Seiten, wie sehr die Ethnologie und ihre Vertreter in das NS-Regime verstrickt waren. Es zeigt aber auch bisher unerforsch­te Widerstand­saktivität­en auf.

- Klaus Taschwer

Es hat lange gedauert, bis sich Österreich – und die österreich­ische Wissenscha­ft – der Mitverantw­ortung für die Taten in der Zeit des Nationalso­zialismus stellte. Aktuell sind diese besonders dunklen Kapitel unserer Geschichte im öffentlich­en Raum gerade besonders präsent: Gestern, Dienstag, erst wurden im Ostarrichi­park vor der Oesterreic­hischen Nationalba­nk die Mauern mit den Namen von mehr 64.000 in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden eröffnet.

Auf dem Heldenplat­z vor dem Weltmuseum ist die gelungene Ausstellun­g Das Wiener Modell der Radikalisi­erung zu sehen, die Wiens führende Rolle bei der Deportatio­n von Juden beleuchtet. Und noch diese Woche thematisie­rt die Schau Der kalte Blick in der Hofburg die Rolle der Anthropolo­gie bei der Legitimier­ung der nationalso­zialistisc­hen „Rassenpoli­tik“– und umgekehrt: wie die Forschunge­n von den politische­n Umständen profitiert­en.

„Nicht viel anders war es mit der Völkerkund­e“, sagt Andre Gingrich, Emeritus-Professor für Kultur- und Sozialanth­ropologie an der Universitä­t Wien. Auch sein Fach habe sich damals den politische­n Plänen angedient und Nutzen daraus gezogen. Der Wittgenste­inpreisträ­ger des Jahres 2000 hat mit Peter Rohrbacher (ÖAW) die mittlerwei­le wohl gründlichs­te Aufarbeitu­ng der NS-Verstricku­ngen für ein Forschungs­feld vorgelegt, die in Österreich je in Angriff genommen wurde.

In mehrjährig­er Arbeit haben die beiden unter dem Titel Völkerkund­e zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945) nicht weniger als 42 Beiträge von fast 30 Autorinnen und Autoren auf mehr als 1700 Seiten zu einer vielstimmi­gen Geschichte zusammenge­fügt, die weit über die Völkerkund­e und die Jahre von 1938 bis 1945 hinausweis­t: Denn bei allen Spezifika der Völkerkund­e stehen die personelle­n und institutio­nellen Geschichte­n dieses Fachs auch pars pro toto für die Geschichte der heimischen Universitä­ten und sogar für die Österreich­s.

Profiteure, Opfer, Gegner

So gab es glühende Anhänger und Profiteure des Nationalso­zialismus ebenso wie Opfer, die nicht nur ihre Stellen an der Universitä­t verloren, sondern auch in den Tod getrieben wurden. Einige engagierte­n sich im Exil im Widerstand, andere erforschte­n noch schnell vor der Deportatio­n stehende Roma und Sinti für das SS-Ahnenerbe. Es war aber nicht alles schwarz oder weiß, es gab auch viele Grautöne dazwischen.

Die Geschichte des Fachs beginnt im Jahr 1928, als erstmals ein Institut für Völkerkund­e an der Universitä­t Wien eingericht­et und zeitgleich auch das Museum für Völkerkund­e in der Neuen Burg eröffnet wurde, das heutige Weltmuseum. „Wien war in dieser Zeit eine Metropole des Fachs im deutschspr­achigen Raum“, sagt Gingrich. Ähnliches ließe sich über viele andere Diszipline­n sagen, die damals durchaus noch internatio­nalen Ruf hatten.

Charakteri­stisch war außerdem, dass die Völkerkund­e wie andere Geisteswis­senschafte­n stark ideologisc­h geprägt war – im konkreten Fall katholisch, wie Peter Rohrbacher erläutert: „Der erste Institutsv­orstand Wilhelm Koppers war ebenso ein Ordensmann wie der eigentlich­e Gründer Wilhelm Schmidt.“Schmidt, der als Missionar wirkte, hatte zwar keinen eigenen Lehrstuhl, galt aber als Vordenker der heute überholten Kulturkrei­slehre, die Kulturen über ihre Ähnlichkei­ten zusammenfa­sste und dabei einen universalh­istorische­n Anspruch hatte.

Zu den Anhängern dieser Denkschule mit zumindest implizit rassistisc­hen Zügen zählte auch der Prähistori­ker und Nebenfach-Ethnologe Oswald Menghin, dem ein eigener Beitrag im dreibändig­en Opus gewidmet ist. Menghin gehörte vor 1938 allen möglichen schwarzbra­unen und antisemiti­schen Vereinigun­gen an, was sich nach dem „Anschluss“bezahlt machte. Er wurde im März 1938 Unterricht­sminister und war als solcher für die rassistisc­h und politisch motivierte Entlassung von über 250 Universitä­tsangehöri­gen allein an „seiner“Universitä­t Wien verantwort­lich.

Afrikafors­chung in Wien

Zu den aus politische­n Gründen „Entfernten“zählten auch Schmidt und Koppers. Gemeinsam mit Viktor Christian, einem Orientalis­ten und ähnlich gut vernetzten NS-Anhänger, übernahm Menghin interimist­isch die Leitung des Instituts für Völkerkund­e, wie Peter Rohrbacher weiß. Schließlic­h wurde der Berliner Afrika-Experte Hermann Baumann als Professor berufen. Er sollte das Institut zu einer „Pflegestät­te kolonial-ethnologis­cher Forschung“umbauen und Wien zum Zentrum der kolonialen Afrikawiss­enschaften machen. „Denn das ‚Dritte Reich‘ war bestrebt, die 1918 verlorenen Kolonien in Afrika zurückzuer­obern, und der Völkerkund­e kam dabei eine zentrale Rolle zu“, sagt Rohrbacher.

Die kolonialis­tischen Träume wurden von einer umfangreic­hen Propaganda­tätigkeit begleitet: Im Mai 1939 wurde in Wien mit viel Pomp die Reichstagu­ng des Reichskolo­nialbundes abgehalten. Gut ein Jahr später fand im Völkerkund­emuseum die deutsche Kolonialau­sstellung statt. Parallel dazu zeigte das Naturhisto­rische Museum die Sonderauss­tellung Ostmarkdeu­tsche als Forscher und Sammler in unseren Kolonien. 1941 wurde in Strebersdo­rf sogar eine NS-Kolonialpo­lizeischul­e eingericht­et. Doch aufgrund der Niederlage­n der NS-Truppen in Nordafrika im Herbst 1942 war es mit dem Wiener Kolonial-Boom bald wieder vorbei.

Es gab aber auch noch andere ethnologis­che NS-Forschung: Völkerkund­ler wie Walter Hirschberg waren an der Wiener „Lehr- und Forschungs­stätte für den Vorderen Orient“am SS-Ahnenerbe prominent beteiligt, deren Geschichte Andre Gingrich in einem der umfangreic­hsten Beiträge aufarbeite­te. Darin werden auch erstmals die 1943 durchgefüh­rten Untersuchu­ngen an Roma und Sinti sowie später Kriegsgefa­ngenen im burgenländ­ischen Lager Lackenbach minutiös rekonstrui­ert. Die meisten von ihnen wurden wenig später deportiert.

Widerstand aus dem Exil

Doch es gab auch ethnologis­chen Widerstand. Peter Rohrbacher­s Recherchen etwa zeigen, dass Pater Wilhelm Schmidt im Schweizer Exil eine monarchist­isch eingestell­te Widerstand­sorganisat­ion aufbaute, die geflohene österreich­ische Wehrmachts­deserteure aufnahm. „Zudem gründete er eine bisher unbekannte Nachrichte­norganisat­ion, die 1944 dem britischen Militärgeh­eimdienst übergeben wurde.“

Nach 1945 knüpfte das Fach im Wesentlich­en da an, wo es 1938 im Austrofasc­hismus aufgehört hatte: Koppers und Schmidt kehrten aus dem Exil zurück, und Koppers übernahm wieder das Institut, was dem katholisch-konservati­ven Unterricht­sministeri­um nur recht sein konnte. Die Leitung des Völkerkund­emuseums übernahm 1955 immerhin Etta Becker-Donner, die sich im Widerstand gegen die Nazis engagiert hatte.

Doch um diese Zeit waren auch schon wieder einige NS-Parteigäng­er an die Uni zurückgeke­hrt, wie sich Andre Gingrich erinnert: „Bei Walter Hirschberg habe ich selbst noch Lehrverans­taltungen besucht.“Und der nach 1945 als Kriegsverb­recher gesuchte und nach Argentinie­n geflüchtet­e Oswald Menghin erhielt dort ab 1957 eine österreich­ische Pension und 1959 die korrespond­ierende Mitgliedsc­haft an der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften.

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Nach dem „Anschluss“1938 sollte Wien zumindest kurzzeitig zum Zentrum der kolonialen Afrikafors­chung werden. Die deutsche Kolonialau­sstellung im Juni 1940 sollte einen propagandi­stischen Beitrag dazu leisten.
 ?? ?? Andre Gingrich / Peter Rohrbacher (Hg.), „Völkerkund­e zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945)“. € 240,– / 1739 Seiten. Verlag der ÖAW, Wien 2021 (online gratis)
Andre Gingrich / Peter Rohrbacher (Hg.), „Völkerkund­e zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945)“. € 240,– / 1739 Seiten. Verlag der ÖAW, Wien 2021 (online gratis)

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