Im Prosa-ICE durchs thüringische Nazi-Land
Der berühmteste lebende Autor Ungarns hat einen Roman vorgelegt, der aus einem einzigen Satz besteht. László Krasznahorkai erkundet in „Herscht 07769“die Mentalität der Abgehängten und Verzagten. Ein Porträt.
Das ostthüringische Kana ist ein NaziNest. Es steckt voller Hass- und HartzIV-Figuren, beherbergt aber auch ein eigenes symphonisches Orchester, das sich mit der Aufführung von Bachs Brandenburgischen Konzerten ohne Aussicht auf Erfolg herumplagt. In „Kana“hat der ungarische Autor László Krasznahorkai das biblische „Kanaan“versteckt (und die Porzellanstadt Kahla). Doch statt Milch und Honig fließt bloß die schmutzig braune Saale durch das kalte Kaff.
Von Gott verlassen, schlagen auch Beamte aus Jena oder Erfurt am liebsten einen Bogen um Kana. Im Herzen der Stadt, genauer gesagt im siebenten Stock eines Plattenbaus, wohnt Florian, der belämmerte Riese und Held in Krasznahorkais Roman Herscht 07769.
Dieses begriffsstutzige Waisenkind hält als einziges Kontakt mit „draußen“. Alle paar Wochen richtet Florian, Nachname Herscht, handgeschriebene Briefe an Kanzlerin Angela Merkel. Der Romantitel markiert den Absender. Den Einfaltspinsel plagt ernstlich die Sorge, die Welt könnte sich durch das Überhandnehmen von Antimaterieteilchen vor unser aller Augen in Luft auflösen. Bei der gelernten Physikerin hofft Florian – dieser von einer Art Nazi-Ziehvater brutal gebeutelte, sanfte Gigant – auf Verständnis. Und auf Abhilfe.
Wie aus Furcht, dieser gottverlassene Winkel könnte ihm unter der Schreibhand entgleiten, hat Krasznahorkai eine List ersonnen. Sein Roman besteht aus einem einzigen, 409 Buchseiten überspannenden Satz: eine atemlose Folge aus Nebensatzreihen. Dieser Gespensterzug setzt sich aus lauter Kleinstdarstellern zusammen, Grillbudenbesitzern, Bibliotheksangestellten, Nachtportieren, Hartz-IVEmpfängerinnen.
Ungarns zurzeit weltberühmtester Dichter zimmert seit seinem Erstling Satanstango (1985) am Entwurf einer Welt ganz am Rand: an einer schlammig braunen Gegend der Verwahrlosung, die schon vor Zeiten von allen guten Geistern und vom lieben Gott persönlich verlassen worden ist. Wer anderes, gar Besseres verspricht, ist entweder ein Scharlatan und Spitzel (wie der Prophet Irimias in Satanstango) oder ein Nazi (wie Florians Ziehvater, „Boss“genannt, in Herscht 07769).
Es verhält sich bei Krasznahorkai ein wenig wie bei Kafka: Es gibt Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur leider nicht für seine Figuren. Wenn doch einmal Euphorie ausbricht, dann entpuppt sich die Ankunft des sehnsüchtig erwarteten Messias rasch als Enttäuschung, so wie in Baron Wenckheims Rückkehr (auf Deutsch 2018).
In Kana, unweit der „Bundesstraße 88“, haust derweil der braune Ungeist. Florian und sein „Boss“bilden ein zweiköpfiges Putzkommando, das Graffiti vom Bach-Geburtshaus in Eisenach herunterwäscht. Es geistern Wölfe durch Thüringen und fallen Ausflügler an. Krasznahorkais Riesensatz braust wie ein unendlich langer ICE-Zug durch ein mentales AbbruchDeutschland. Dorthin, wo irgendwo hinter „Großpürschütz“und „Greuda“tätowierte Nazis unerkannt Seite an Seite mit Revierförstern leben, die die Allgemeinheit mit Honig laben. Insofern ist Kana doch Kanaan.
Den Ehrentitel eines „ungarischen Meisters der Apokalypse“hat Krasznahorkai von Susan Sontag empfangen. Seine manchmal verschachtelten Sätze legt er sich allesamt im Kopf zurecht. Den Computer empfindet er als „höchst enttäuschenden Ausdruck“von 10.000 Jahren menschlicher Kultur.
Sein ungemein zeitgenössisch anmutendes Werk kennt keine allzu drängenden Aktualitäten. Der Gulaschkommunismus mag dem heute in Triest lebenden Man-Booker-International-Preisträger von 2015 ein Gräuel gewesen sein. Auf den Alarmismus seiner Zeitgenossen reagiert Krasznahorkai abwartend: „Ich empfinde es als natürlich, unter den Bedingungen eines unerklärten Kriegs zu leben.“Und: „Die Apokalypse? Hat schon längst begonnen. Es erübrigt sich also, auf sie zu warten.“
Wer möchte, kann während der Lektüre von Herscht 07769 die Ähnlichkeit mit einer anderen Welttheaterbühne feststellen. Gemeint sind die doppelten Böden, die Péter Esterházy (1950–2016) in den real existiert habenden Sozialismus einzog. Die Apokalypse selbst versetzt die Bewohner von Kana zunächst in Angst und Schrecken. Eine Tankstelle explodiert, der „Boss“wird erschlagen aufgefunden. Das ganze Ungemach, das die Gegend plagt, kehrt in den Konsonantenballungen ihrer fluchenden Landeskinder wieder: „vrdmmt“, „schse“. Als bekämen alle in Thüringen von Kindesbeinen an Jandl zu lesen.
Der Punkt, hat Krasznahorkai (67) gesagt, sei eine künstliche Unterbrechung des Redeflusses. Aus dem tumben Florian wird ein unbarmherziger Rächer der Verderbten. Nicht erst für diesen Roman, einen Höhepunkt des Bücherherbsts, hat Ungarns größter lebender Erzähler neben Péter Nádas heuer den Staatspreis für Europäische Literatur erhalten. Der Teufel, so Krasznahorkai, sei irgendwo da draußen. „Und wir sind absolut ohnmächtig.“Selbst Angela Merkel vermag wider diese Ohnmacht nicht das Geringste auszurichten. László Krasznahorkai, „Herscht 07769“. Roman. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming.
€ 26,80 / 416 Seiten. S. Fischer, Frankfurt 2021
„Die Apokalypse hat begonnen. Warten erübrigt sich.“
László Krasznahorkai