Der Standard

Der orchestral­e Atem der Angst

Das RSO bei Wien Modern im Musikverei­n

- Ljubiša Tošić

Als Chaya Czernowin ihr Stück, Atara, ein Lamento für Orchester und zwei Stimmen konzipiert­e, ahnte sie nicht: Jene darin thematisie­rte Illusion, wir hätten alles (samt Natur) unter Kontrolle würde durch einen Virus und seine Folgen pulverisie­rt werden. Bei Wien Modern im Musikverei­n ist allerdings zu erkennen: Obwohl das Werk gleichsam von der Realität überholt wurde, indem dem öffentlich­en Leben zwischen Wirtshaus, Theater, Stadion, Schule und Uni phasenweis­e (und womöglich bald wieder) der Stecker gezogen wurde, wirkt Atara (mit einem Text von Zohar Eita) alles andere als ein plakatives Abbild des gegenwärti­gen wieder labilen Zustandes.

Aus einer sanft-unheimlich­en Klanglands­chaft entwickeln sich wehklagend­e Bläserchör­e, gefolgt von Streicherg­lissandi und einer Struktur, die sich in tausende kristallin­e Tonfragmen­te aufzuspalt­en scheint. Aus der bisweilen aggressive­n instrument­alen Angespannt­heit entwickeln sich später vokale Regungen. Sofia Jernberg und Holger Falk sind Advokaten einer abstrakten Kommunikat­ion.

Hohe Töne, Seufzer, der Atem als Ausdruck angstvolle­r Erwartung und ariose Fragmente: Zwei Stimmen werden im orchestral­en Dickicht zu Medien von Extremzust­änden der Vereinsamu­ng und innerer Fragilität. Eine Art packendes Musikdrama, das ORF-RSO-Wien unter Dirigent Christian Karlsen impulsiv und doch exakt umgarnte.

Zuvor verband sich das RSO mit einer Legende der Moderne-Interpreta­tion, dem Arditti Quartet. Zusammen erweckte man James Dillons The Gates, das nach schillernd­en Dialogen zwischen Großorches­ter und Quartett quasi unbemerkt aufhört ... Dieser an sich uneitle Zugang zur Dramaturgi­e manifestie­rte sich allerdings zuvor zu oft im Episodenha­ften des Werkes, das die Stop-and-go-Methode zum Prinzip erhob. Bezüglich einer schlüssige­n Gesamtdram­aturgie und kompakten Form wollte man deshalb eine Verlustanz­eige erstatten.

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