Der Standard

Was wollen die Wähler?

Die jüngsten Wahlen in den USA sind ein Weckruf für die Demokraten. Aber die Vorzeichen für die Zwischenwa­hlen stehen schlecht. Daran ändern auch die geschnürte­n Hilfspaket­e wenig. Es gelingt nicht, die Wählerscha­ft an sich zu binden.

- Alison Smale ALISON SMALE ist Journalist­in, ehemalige Berliner „New York Times“-Korrespond­entin, Chefredakt­eurin der „Internatio­nal Herald Tribune“und derzeit am Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen.

Was ist in den Vereinigte­n Staaten los? Während Europäer und US-Amerikaner die neuesten Erkenntnis­se aus US-Wahlen verarbeite­n, kommt man kaum um die Schlussfol­gerung herum, dass wichtige Kräfte auf beiden Seiten des Atlantiks jenes Vertrauen erschütter­n, das innerhalb und zwischen unseren Demokratie­n notwendig ist. Gleichzeit­ig erfordert die wachsende Herausford­erung durch China Zusammenha­lt.

Wahlnächte in den USA sind politische­s Drama – von Luftballon­s bis hin zu jubelnden Menschenme­ngen, niedergesc­hlagenen Verlierern und Außenseite­rn, deren Siege genau untersucht werden, um Rückschlüs­se auf die allgemeine politische Stimmung zu ziehen. Ed Durr etwa, ein 58-jähriger Lieferwage­nfahrer, der bei der Wahl zum Staatssena­t in New Jersey am 2. November völlig unerwartet den zweitmächt­igsten Demokraten des Staates besiegte. Nur Stunden danach flüchtete er vor den Kameras, man hatte seine fremdenfei­ndlichen, antimuslim­ischen Tweets entdeckt. Willkommen in der realen Politik in den Vereinigte­n Staaten von heute.

Diese Wahlen – vor allem die Niederlage von Terry McAuliffe als Gouverneur von Virginia – waren ein Weckruf für die Demokraten. Sie müssen sich nun darauf einstellen, bei den Zwischenwa­hlen 2022 den Kongress zu verlieren. Zwar versuchte das Weiße Haus das politische Narrativ zurückzuer­obern, indem es gute Beschäftig­ungszahlen vorlegte und ein erstes massives Infrastruk­turpaket – jenseits der Billionen-Dollar-Grenze – seit Jahrzehnte­n verkündete. Eine ähnlich hohe Summe für ein weiteres Paket, mit Maßnahmen, die für die meisten europäisch­en Wähler Normalität sind – Kindergart­en für alle Dreibis Vierjährig­en oder Altenpfleg­e –, soll noch auf den Weg gebracht werden. Aber bisher hat sich die Partei gegen Kompromiss­e gesträubt.

Neue Normalität

Die Tatsache, dass die Demokraten selbst jetzt noch zögern, zeigt, dass Europäer und US-Amerikaner sehr unterschie­dliche Erwartunge­n an ihre Regierunge­n haben. Und dass ihre politische­n Führer damit zu kämpfen haben, herauszufi­nden, was ihre Wähler (und vor allem Nichtwähle­r) wollen.

Dabei sollten sich Europäer und US-Amerikaner, die vor einem Jahr über die Wahl Joe Bidens jubelten, daran erinnern, was für ein knapper Sieg das war. Führende europäisch­e Amtsträger sind sich sehr wohl bewusst, dass Donald Trump nicht nur über eine weitere Kandidatur nachdenkt. Wie gefährlich das sein könnte, zeigten die beängstige­nden Szenen von der Besetzung des Kongresses am 6. Jänner.

Vergangene Woche moderierte Susan B. Glasser vom New Yorker eine Diskussion über „die Gesundheit der amerikanis­chen Demokratie“in einem Forum, das der nationalen Sicherheit gewidmet war. „Undenkbar“wäre das vor der Ära Trump gewesen, sagte sie, jetzt sei das „beunruhige­nde neue Normalität“. „Unsere internen Spaltungen haben Konsequenz­en, die weit über die Frage hinausgehe­n, wer das Statehouse in Richmond, Virginia, oder Trenton, New Jersey, leitet. Inmitten von Diskussion­en über chinesisch­e Hyperschal­lraketen, iranische Atomgesprä­che und darüber, was Wladimir Putin wirklich vorhat, werden Experten zum Aspen Security Forum gerufen, um die Wahlpräfer­enzen ländlicher Amerikaner ohne Hochschulb­ildung und die Unwägbarke­iten der Wahlbeteil­igung in den Vorstädten zu analysiere­n.“

Solche Diskussion­srunden gibt es inzwischen überall auf der Welt, auch in Wien. Thomas Bagger, der außenpolit­ische Berater des deutschen Bundespräs­identen FrankWalte­r Steinmeier, sprach im Institut der Wissenscha­ften vom Menschen über die Zukunft der deutschen Diplomatie. Deutschlan­ds Priorität sei angesichts der Risse und der Uneinigkei­t im heutigen Europa der Zusammenha­lt der EU. Er rechnet damit, dass die Verlagerun­g der strategisc­hen Aufmerksam­keit von Europa nach Asien Japan zu der Art „Frontstaat“machen würde – so wie es Deutschlan­d im Kalten Krieg war.

In der Zwickmühle

Bagger ging auch auf die Warnung des Nato-Generalsek­retärs Jens Stoltenber­g ein, dass die EU Europa nicht verteidige­n könne und sie daher in Bezug auf ihre Sicherheit letztlich immer noch von den USA abhängig sei. Aber sind sich beide Seiten – Europäer und Amerikaner – darüber im Klaren, was sie beitragen sollen und welches Ergebnis sie anstreben?

Selbst das wohlhabend­e Deutschlan­d befindet sich in der Zwickmühle im Umgang mit China, seinem

Handelspar­tner Nummer eins. Es gibt keine offensicht­liche Alternativ­e, um den Wohlfahrts­staat, den die Deutschen erwarten, zu finanziere­n.

In den Vereinigte­n Staaten hat bisher nicht einmal die Verlockung von mehr als einer Billion US-Dollar für soziale Zwecke ausgereich­t, um Misstrauen und Spaltung innerhalb der Demokratis­chen Partei zu überwinden, geschweige denn die Kluft zu den Republikan­ern zu überbrücke­n. Die junge Abgeordnet­e Alexandria Ocasio-Cortez aus New York sagt, dass das großzügige PandemieHi­lfsgesetz wenig dazu beigetrage­n hätte, die Wahlverlus­te der letzten Woche auszugleic­hen. Die Wähler würden sich über Wahlbeschr­änkungen ärgern. Reverend Al Sharpton, einer der Redner beim Begräbnis von George Floyd, wiederum findet, dass einige Aktivisten zu viel Druck ausgeübt hätten, zum Beispiel was Polizeiref­ormen betrifft. Eric Adams, der New Yorker Polizist, der jetzt zum zweiten schwarzen Bürgermeis­ter der Stadt gewählt wurde, fordert eine klare Kommunikat­ion und weniger hitzige Diskussion­en. Mit einfachen Dingen würde man die Unterstütz­ung der Wähler gewinnen.

Vielleicht kann die Krise der USDemokrat­ie ja doch noch abgewendet werden. Immerhin verbreitet­en sogar Demokraten Fotos, auf denen der amtierende Gouverneur ihrer Partei, Ralph Northam, den republikan­ischen Wahlsieger Glenn Youngkin im Gouverneur­sgebäude von Virginia herumführt, berichtete Glasser. Ganz so, als wollten sie sagen: „Seht, ein friedliche­r Übergang. Es ist immer noch möglich.“Zumindest, fügte sie hinzu, solange Wieheißt-er-noch nicht auf dem Wahlzettel steht.

Sollten wir von den wütenden jungen Mengen bei dem Klimagipfe­l in Glasgow lernen? Man muss selber agieren, meinen sie, nicht auf gute Politik warten. Europäer haben seit dieser Woche die neue (alte!) Reisefreih­eit in die USA. Wenn wir uns buchstäbli­ch umarmen können, werden vielleicht unsere großen Unterschie­de sich auch so verringern, wie wir alle in den letzten 18 Monate auf Größe eines Zoom-Fensters reduziert wurden.

 ?? ?? Das gab es in Washington beim Übergang von Donald Trump zu Joe Biden nicht. Der Wahlsieger in Richmond, Virginia, Glenn Youngkin (re.), und Amtsinhabe­r Gouverneur Ralph Northam (li.), im Bild mit ihren Ehefrauen Suzanne Youngkin und Pam Northam, verspreche­n einen reibungslo­sen Übergang.
Das gab es in Washington beim Übergang von Donald Trump zu Joe Biden nicht. Der Wahlsieger in Richmond, Virginia, Glenn Youngkin (re.), und Amtsinhabe­r Gouverneur Ralph Northam (li.), im Bild mit ihren Ehefrauen Suzanne Youngkin und Pam Northam, verspreche­n einen reibungslo­sen Übergang.

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