Wer zieht an welchem Strang?
Im Krisenmanagement verhärtet sich die Front zwischen ÖVP und Grünen fast täglich. Weitere Maßnahmen schließt niemand aus. Wer wofür steht? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.
Auch im Büro von so manchem Landeshauptmann herrscht derzeit Verwirrung, was die Bundesregierung nun eigentlich will. Die Stimmung zwischen ÖVP und Grünen hat einen Tiefpunkt erreicht, das sei an diesem Wochenende deutlich spürbar gewesen – Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) forcieren unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Krise. Man könnte fast sagen: Es prallen zwei Schulen der Pandemiebewältigung aufeinander.
Am Sonntag um kurz nach zehn Uhr am Vormittag startete die Videokonferenz mit Bundesregierung und Landeshauptleuten. Die Sitzung wird vom Kanzler eröffnet. Schallenberg sitzt mit Mückstein, einigen weiteren Regierungsmitgliedern und zwei Experten im Kanzleramt, die anderen sind über ihre Bildschirme zugeschaltet. Der neue türkise Regierungschef erklärt, warum es nun den Lockdown für Ungeimpfte braucht. Das Thema steht zu diesem Zeitpunkt aber quasi außer Streit. Ein entsprechender Verordnungsentwurf kursiert bereits seit dem Vortrag.
Danach ist Mückstein an der Reihe. Er, so erzählen es Zuhörer, referiert zuerst ein Papier von Expertinnen und Experten, das am Freitag veröffentlicht wurde. Darin erklären 33 namhafte Wissenschafter die Notwendigkeit einer deutlichen Kontaktreduktion. Sie plädieren für härtere Maßnahmen – etwa verpflichtende PCR-Tests auch für Geimpfte und Genesene. Mückstein habe sich den Forderungen angeschlossen und auch Ausgangsbeschränkungen für alle in den Raum gestellt. Eine Diskussion darüber sei nicht erfolgt. Der Kanzler habe ihn abgewürgt, erzählt jemand, der dabei war: Derzeit gehe es nur um den Lockdown für Ungeimpfte, soll Schallenberg klargestellt haben.
Die Szene ist das Resultat eines seit langem schwelenden Auffassungsunterschieds in der Koalition. Die ÖVP vertritt die Linie, dass die
Pandemie für Geimpfte vorbei sein muss. Österreich könne sich nicht von Lockdown zu Lockdown hanteln und damit auch jene bestrafen, die brav mitmachen und sich impfen lassen. Jeder Ungeimpfte werde in absehbarer Zeit an Covid erkranken. Die einzige Lösung sei, dass der Druck auf sie erhöht wird. Die vor über einer Woche verordneten Einschränkungen durch 2G-Regeln würden bereits Erfolge zeigen. Vorige Woche sind in Österreich so viele Impfungen durchgeführt worden wie seit Anfang Juli nicht mehr. Vor allem daran müsse man weiter arbeiten, so die Sichtweise der Volkspartei.
Grüne wollen mehr
Die Grünen stehen hingegen mehr auf der Seite der meisten Virologinnen und Virologen. Angesichts der dramatischen Lage in vielen Spitälern und überfüllten Stationen bleibe der Regierung nichts anderes übrig, als entschlossener vorzugehen. Ein Lockdown für Ungeimpfte allein, das sagen auch viele Experten, könne die Situation nicht mehr ausreichend beruhigen. Es brauche mehr. Die Grünen betonen derzeit auch gerne, dass sie schon viel früher auf Verschärfungen wie eine Ausdehnung der FFP2-Masken-Pflicht gedrängt hätten – doch mit dem Koalitionspartner sei lange Zeit gar nichts möglich gewesen.
Bei dem Treffen am Sonntag hatten die Vertreter der Länder noch einige andere Themen angesprochen: etwa die Probleme mit PCR-Tests, deren Auswertung vielerorts nicht annähernd zeitgerecht funktioniert. Debatte sei aber keine zustande gekommen. Vielmehr habe man zusehen können, wie sich die Fronten zwischen ÖVP und Grünen verhärten.
Vertreter der Volkspartei sollen versucht haben, den Scheinwerfer auf Mückstein zu richten: Sie sprachen an, ob das Nationale Impfgremium und die dem Gesundheitsminister unterstellte Gesundheitsbehörde nicht in Sachen Impfung manches verabsäumt hätten – etwa die Empfehlung, die Auffrischungsimpfungen wegen abnehmender
Wirksamkeit früher zu forcieren. Nach rund zwei Stunden war die Sitzung vorbei. In der Pressekonferenz danach konnte sich wiederum Mückstein einen Seitenhieb nicht verkneifen: Manche – gemeint war vor allem Altkanzler Sebastian Kurz – hätten die Pandemie doch immer wieder für beendet erklärt. Von ihm, dem Gesundheitsminister, habe man das – zur Klarstellung – nie gehört.
Am Montag wurden nun exakt 11.889 Corona Neuinfektionen gemeldet – so viele wie noch nie an einem Wochenanfang. In 24 Stunden wurden 40 neue Todesopfer aufgrund von Covid verzeichnet. In den Spitälern liegen österreichweit bereits 2455 Menschen mit Corona,
441 davon auf Intensivstationen. Kanzler Schallenberg betont: Im Krankenhaus würden mit größter Mehrheit Ungeimpfte landen. Am Montag wurde auch bekannt, dass FPÖChef Herbert Kickl positiv getestet wurde – ihm und der Stimmungsmache der Freiheitlichen schreiben viele zu, dass die Impfquote hierzulande bis heute im europaweiten Vergleich so niedrig ist.
Aber wie geht es nun weiter? Am Mittwoch will Gesundheitsminister Mückstein die Effekte der bis dahin zehn Tage geltenden 2GRegel evaluieren – und daraus Schlüsse ziehen. Die Regierung betont aber ohnehin: Die bundesweiten Vorgaben seien nur „die Unterkante“– regional könne, solle, müsse bei Bedarf mehr getan werden. In Kärnten, nach Oberösterreich und Salzburg ein weiteres Bundesland, in dem die Zahlen enorm nach oben schnellen, wurde nun eine praktisch überall geltende Maskenpflicht angekündigt. Auch Niederösterreich weitet das Tragen von FFP2-Masken aus. In Wien treten Ende der Woche zusätzliche Verschärfungen in Kraft – in der Hauptstadt müssen sich Geimpfte und Genesene dann etwa für die Nachtgastronomie zusätzlich PCR-testen lassen.
Droht der Lockdown für alle?
Doch droht bald der Lockdown für alle? Hier differiert die Antwort, je nachdem, wen man fragt. Schallenberg hat sich am Montag erneut gegen nächtliche Ausgangssperren für Geimpfte ausgesprochen – also Mücksteins Vorschlag auch öffentlich vom Tisch gewischt. Die Nachtgastronomie müsse offen bleiben. Auch die SPÖ lehnt den Vorschlag zu gegebenem Zeitpunkt ab. Die Neos würden dagegen sogar vor den Verfassungsgerichtshof ziehen. Dass die Regeln noch nachgeschärft werden könnten, schließt aber auch der Kanzler nicht aus. Von den Grünen hört man hingegen: Wenn sich die Situation nicht bald stabilisiere, rücke ein Lockdown zumindest näher.