Zwischen Jubeln und Grübeln
Lewis Hamiltons Triumph in Brasilien wirft für die Konkurrenz Fragen auf. Außer Frage steht, dass der Formel-1-Champion den letzten drei Rennen voll Zuversicht entgegensieht.
Sennas Reinkarnation, ein Tornado oder schlicht der beste Formel-1-Fahrer aller bisherigen Zeiten – wäre Lewis Hamilton ein eifriger Leser, könnte er auch nicht die Fülle des Lorbeers würdigen, der ihm nach dem Grand Prix von Brasilien medial zu Füßen gelegt wurde. Freilich ist der Rekordchampion drei Rennen vor Saisonende noch 14 Zähler hinter dem führenden Niederländer Max Verstappen, aber das Momentum ist nach dem sechsten Saisonsieg nach einer grandiosen Aufholjagd aufseiten des Briten. Oder ist da gar noch mehr aufseiten des überragenden Rennfahrers Hamilton?
„Wir müssen verstehen, woher ihr Speed auf den Geraden kommt. Das ist nicht normal“, sagte Christian Horner. Dem Teamchef von Red Bull ist zugutezuhalten, dass der Nackenschlag von São Paulo, sofern ein zweiter Platz so zu nennen ist, nicht vorauszusehen war. Ja, er schien nach den Ereignissen vor dem Grand Prix nahezu ausgeschlossen. Red Bull galt in Brasilien als Favorit, dazu gab Mercedes
durch einen Motorentausch bei Hamiltons Boliden fünf Startplätze vor. Und schließlich geriet der Titelverteidiger weiter ins Hintertreffen, weil Kontrolleure des Automobilweltverbandes Fia den Heckflügel des Mercedes mit der Nummer 44 als irregulär erkannten. Kaum jemand zweifelt, dass der entscheidende Hinweis von Red Bull kam. Verstappen hatte eigenhändig am gegnerischen Fahrzeug Maß genommen und dafür eine Strafe in Höhe von 50.000 Dollar kassiert.
Hamiltons Rückversetzung auf den letzten Startplatz für den Sprint erzürnte Mercedes-Sportchef Toto Wolff. Umso triumphaler fielen die Gesten des Wieners aus, als sein Star von Platz zehn aus zum Triumph raste – auch dank eines unglaublichen Geschwindigkeitsvorteils auf der Geraden. Rund 20 km/h sei der 36-Jährige auf der Start-ZielGeraden schneller gewesen als Verstappen, sagte Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko: „Mercedes ist ein Meisterwerk gelungen, so eine Rakete in dieser Phase herbeizuzaubern.“„Mal sehen, ob noch mehr lustige Dinge passieren. Ein Protest etwa“, konterte Wolff. Kollege Horner sah allerdings die Zeit für einen Protest noch nicht gekommen.
Hamilton selbst tat nichts dazu, den Spekulationen Einhalt zu gebieten. „Aus welchem Grund auch immer, unser Auto hat hier fantastisch funktioniert. Aber wir nehmen das gerne.“Sein Team erklärte die Tatsache, dass von allen acht MercedesMotoren im Feld ausgerechnet der wichtigste am besten lief, damit, dass die werkseigenen Antriebe in diesem Jahr anfangs enorm stark seien, dafür aber auch schneller abbauten als in der Vergangenheit. Stimmt das, wäre Hamilton vielleicht schon in Katar, wahrscheinlich aber in Dschidda und beim Saisonfinale in Abu Dhabi seiner Superkräfte beraubt. Allerdings gelten alle drei Strecken eher als MercedesStrecken. Vor allem der neue Grand Prix von Saudi-Arabien bereitet Red Bull größte Sorgen, bietet der Jeddah Street Circuit doch besonders lange Geradeauspassagen.
Hamilton freut sich nach einem der „besten Wochenenden, vielleicht dem besten meiner gesamten Karriere“, auf die Premiere vor der Premiere, den ersten F1-Grand-Prix von Katar am Sonntag nahe Doha. Das Ersatzrennen für den Grand Prix von Australien wird auf dem Losail International Circuit gegeben, auf dem bisher vor allem Läufe zur Motorrad-WM stattfanden. Auch hier spricht eine knapp einen Kilometer lange Gerade für den Antrieb von Mercedes. (sid, red)