Der Standard

Ein Anfang ohne Zauber

Die deutsche Ampelkoali­tion beginnt ihre Arbeit unter schwierigs­ten Bedingunge­n

- Birgit Baumann

Jedem Anfang wohnt ja angeblich ein Zauber inne. Das möchte man Hermann Hesse natürlich auch gern mit Blick auf die deutsche Ampel glauben. Immerhin werden SPD, Grüne und FDP erstmals gemeinsam im Bund regieren. Aber der Glaube fällt schwer.

Noch vor vier Wochen, zu Beginn der Ampelverha­ndlungen, erschien das politische Dasein von Grünen und FDP leicht und unbeschwer­t. Lässig präsentier­te man sich per Selfie als progressiv­es Zentrum der künftigen Koalition.

Die Verhandlun­gen verliefen geräuschlo­s, disziplini­ert und diskret – abgesehen von zwischenze­itlicher (und erwartbare­r) Kritik der Grünen, die klagten, dass beim Klimaschut­z noch mehr Anstrengun­gen nötig seien. Um jeden Preis wollten die Parteien beweisen, dass sie es können.

Schneller als erwartet liegt nun der Koalitions­vertrag vor, er ist fein austariert. Jeder hat gegeben, jeder hat bekommen. Die Grünen können darauf verweisen, dass der Kohleausst­ieg von 2038 auf 2030 vorgezogen werden soll. Robert Habeck wird zudem Vizekanzle­r, das muss reichen, um den Verzicht auf das Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen zu kompensier­en.

Dafür zieht FDP-Chef Christian Lindner ins prestigetr­ächtige Finanzmini­sterium ein. Dort wird er den Garanten für solide Staatsfina­nzen und gegen höhere Steuern geben. Letzteres musste die SPD schlucken, dafür bekam sie von der FDP die Zustimmung zur Erhöhung des Mindestloh­ns und ein eigenes Ministeriu­m für Bauen und Wohnen. M it ein paar gesellscha­ftspolitis­chen Vorhaben – schnellere Asylverfah­ren, Legalisier­ung von Cannabis, mehr Rechte für Transgende­rpersonen – ergibt all das keine schlechte Mischung. Und wenn Scholz, Habeck, Lindner und Co so profession­ell regieren wie sie verhandelt haben, muss einem nicht bange sein.

Und dennoch will keine wirkliche Aufbruchss­timmung aufkommen, denn diese erste Ampelkoali­tion erlebt ihre Premiere unter schwierigs­ten Bedingunge­n. Als Angela Merkel im Jahr 2005 erstmals ins Kanzleramt einzog, wartete ein schweres Erbe auf sie. Deutschlan­d verzeichne­te damals Rekordarbe­itslosigke­it, mehr als fünf Millionen Menschen waren ohne Beschäftig­ung.

Auch der künftige deutsche Bundeskanz­ler Olaf Scholz startet mit horrenden Zahlen, und diesmal geht es – ungleich härter als 2005 – um Leben und Tod. Täglich meldet das Robert-KochInstit­ut neue Höchstwert­e bei den Corona-Neuinfekti­onen, die Kliniken geraten an ihre Belastungs­grenzen. Deutschlan­d, das sich rühmte, besser als andere durch die ersten Wellen gekommen zu sein, droht abzurutsch­en.

Dies hat letztendli­ch auch die Koalitions­verhandlun­gen beschleuni­gt. Deutschlan­d kann sich in dieser Lage kein Vakuum leisten, in dem die alte Regierung

nicht mehr ganz und die neue noch nicht komplett zuständig ist.

Und so werden die ersten Tage dieser neuen Koalition gleich die schwierigs­ten sein. Eigentlich sind alle müde vom Wahlkampf und den Koalitions­verhandlun­gen. Doch die 100-tägige Schonfrist, die man Neulingen gern zum Einarbeite­n gewährt, ist für niemanden drin.

Zu ernst ist die Corona-Lage, zu viel ist schon versäumt worden. Merkel, die Mahnerin, ist in wenigen Tagen weg. Jetzt muss die Ampel Deutschlan­ds größtes Problem lösen, und zwar mit mehr Engagement als bisher.

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