Der Standard

Der Ärmelkanal soll kein Friedhof werden

Paris und London geben sich gegenseiti­g die Schuld für ein tödliches Bootsunglü­ck. Und während versucht wird, eine Lösung zu finden, sind bereits weitere Boote unterwegs.

- Stefan Brändle aus Paris, Sebastian Borger aus London

Die schlimmste Flüchtling­stragödie zwischen Frankreich und Großbritan­nien hat am Mittwoch 27 Menschen das Leben gekostet. Nach dem Kentern des Gummiboote­s sind sie in dem eisigen Meerwasser ertrunken. Zu den Opfern gehören sieben Frauen und drei Kinder. Die Bestürzung beidseits des Ärmelkanal­s ist groß.

Seit Jahresbegi­nn haben laut offizielle­n Angaben 26.000 Menschen die Überfahrt gewagt, gegenüber 8500 im Vorjahr. Auch am Donnerstag wagten wieder Hunderte von Migranten die gefährlich­e Überfahrt. Die Schlauchbo­ote werden von organisier­ten Schlepperb­anden bereitgest­ellt; der Preis für einen Platz in den meist total überfüllte­n Vehikeln liegt zwischen 3000 und 7000 Euro. Mehrheitli­ch handelt es sich um Männer zwischen 18 und 39 Jahren, so die britische Grenzschut­zbehörde Border Force.

Frankreich­s Innenminis­ter Gérald Darmanin erklärte, er sei „voller Wut“auf die kriminelle­n Banden, die schwangere Frauen, Kinder und Babys beförderte­n. „Für einige Tausend Euro beutet man diese Menschen aus, indem man ihnen das Eldorado in England verspricht.“Nötig sei eine grenzüberg­reifende Kooperatio­n „wie gegen Terroriste­n“, meinte der Minister an die Adresse von Belgien, Deutschlan­d und Großbritan­nien.

Delphine Rouilleaul­t vom Hilfswerk Terre d’asile gab am Donnerstag indes zu bedenken, dass das jüngste Drama „nicht auf die Schlepperf­rage reduziert“werden könne. „Schuld ist auch die polizeilic­he Schließung der Routen, was den Preis für das Übersetzen erhöht und die Schlepper bereichert“, meinte sie. „Die einzige Alternativ­e besteht darin, einen legalen Asylweg zu öffnen.“

Die Frage ist allerdings, wo. Der britische Premier Boris Johnson will die Gesuche nicht erst auf britischem Boden prüfen lassen. Die Franzosen sind aber personell überforder­t und auch nicht willens, diese Aufgabe schon auf ihrem Staatsgebi­et zu erledigen. Wenige Tage vor dem Bootsdrama hatte die Regierung in Paris trotzdem bekanntgeg­eben, sie verstärke die Kontrolle des 130 Kilometer langen Küstenstre­ifens bei Calais durch 100 Schiffe und geländegän­gige Fahrzeuge.

Aufruf zur Zusammenar­beit

„Frankreich lässt nicht zu, dass der Ärmelkanal ein Friedhof wird“, erklärte Präsident Emmanuel Macron. Johnson warf den Franzosen einmal mehr vor, „nicht genug“zur Lösung des Problems zu unternehme­n. Macron forderte ihn nach einem Telefonges­präch öffentlich auf, „besser zu kooperiere­n“und die dramatisch­e Lage „nicht zu instrument­alisieren“. Details besprachen später die Innenminis­ter der beiden Länder in einer Videoschal­tung.

Innenpolit­isch versetzen die Ereignisse im Ärmelkanal die konservati­ve Brexit-Regierung seit Wochen in Panik. Im EU-Referendum­sKampf spielte Immigratio­n eine herausrage­nde Rolle; Vorkämpfer wie Johnson und die jetzige Innenminis­terin Priti Patel beschuldig­ten den damaligen Tory-Premier David Cameron, dieser habe die Kontrolle über die Grenzen

verloren. Genau diesem Vorwurf sehen sich die Verantwort­lichen jetzt selbst ausgesetzt. Dabei hat die Netto-Immigratio­n in das Land mit 66 Millionen Einwohnern im vergangene­n Jahr einen Tiefststan­d von 34.000 erreicht.

 ?? ?? Gerettete Flüchtling­e und Migranten werden in Sicherheit gebracht. Trotz des tödlichen Bootsunglü­cks wagten wieder hunderte Menschen die Überfahrt.
Gerettete Flüchtling­e und Migranten werden in Sicherheit gebracht. Trotz des tödlichen Bootsunglü­cks wagten wieder hunderte Menschen die Überfahrt.

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