Unter anderen Umständen
Seit zwanzig Jahren haben Schwangere in Österreich die Möglichkeit einer anonymen Geburt. Sie bringen ihr Kind im Spital zur Welt, ohne ihren Namen anzugeben. Was führt zu dieser Entscheidung?
Manche Frauen sind reserviert, wollen sich vor ihren eigenen Gefühlen schützen. Sie wollen das Baby nicht sehen und nicht wissen, wie schwer und wie groß es ist. Andere sind während der Geburt redselig, wollen das Kind zu sich nehmen, oft auch für ein paar Stunden, und sich von ihm verabschieden. Sie haben auch schon über einen Namen für das Kind nachgedacht. „Am besten ist es, sich vorher zu überlegen, wie man es haben möchte – auch wenn es bei der Geburt dann ganz anders sein kann“, sagt Gerhild Krenn-Gugl.
Sie ist Psychologin in einem Beratungszentrum der Caritas, einer Anlaufstelle für Schwangere, die sich in einer Notsituation befinden und in der anonymen Geburt einen Ausweg sehen. Anonyme Geburt, das bedeutet, dass eine Frau ein Kind ohne Angabe ihrer Personalien in einem Spital auf die Welt bringen kann. Weder die Hebamme noch die Ärztinnen und Ärzte kennen ihren echten Namen. Nach der Geburt wird das Baby meist zur Adoption freigegeben. Seit zwanzig Jahren haben Frauen hierzulande diese Möglichkeit. Rund 30 solcher anonymen Geburten gibt es pro Jahr in Österreich.
„Es ist eine Entscheidung, die immer aus Liebe zum Kind getroffen wird“, sagt Krenn-Gugl. Sie spricht von einem hohen Verantwortungsbewusstsein der Frauen, die anonym gebären. Davon, dass für sie das Wohlergehen des Kindes absolute Priorität hat. Die Frauen würden sich wünschen, dass ihr Kind behütet aufwächst – bezweifeln aber, dass sie ihm das selbst bieten können. Die einen haben einen gewalttätigen Partner, andere trennen sich gerade und haben die Aussicht, alleinerziehend zu sein, was sie sich nicht zutrauen. Wieder andere haben Geldprobleme.
Aus allen Schichten
Die Frauen, die anonym gebären, unterscheiden sich kaum von allen anderen, die ungeplant schwanger sind. Sie sind sehr jung oder schon älter, single oder verheiratet, kommen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. „Der Mythos, dass es vor allem Teenagermütter sind, die keinen Plan vom Leben haben, ist also falsch.“Zwei Drittel der Frauen hätten bereits Kinder. „Sie wissen, was Elternsein bedeutet, und haben die Sorge, dass sie ein weiteres Kind überfordert. Ihnen ist es wichtig, gut für die Kinder zu sorgen, die schon da sind.“Krenn-Gugl hat bereits Frauen beraten, die fest entschlossen waren, das Kind „freizugeben“– und die sich in letzter Minute anders entschieden haben. Aber auch solche, die „zaghaft und ambivalent waren, aber das dann ganz klar entschieden haben“.
Die Schwangerschaften, die zu einer anonymen Geburt führen, würden typischerweise erst spät erkannt. Oft erst nach dem fünften Monat, wo ein Abbruch längst nicht mehr legal ist. „Die Entscheidung lautet dann nur noch: Ist ein Leben mit dem Kind vorstellbar oder nicht?“, sagt Krenn-Gugl. Die Psychologin spricht von einem „verspäteten Schwangerschaftskonflikt“.
Manchmal werde eine ungewollte Schwangerschaft auch verdrängt, bis ganz zum Schluss. Bis die Bauchschmerzen so stark sind, dass die Frau ins Krankenhaus muss. Häufig sei diesen Frauen gar nicht anzusehen, dass sie schwanger sind. „Es ist erstaunlich, wie klein ein Babybauch sein kann“, sagt Krenn-Gugl. Es könne aber auch sein, dass sich die Schwangere niemandem anvertraut, weil sie fürchtet, verurteilt zu werden. Sie zieht sich zurück, hüllt sich in Pullover in Übergröße.
Krenn-Gugl sagt den werdenden Müttern, welche Sozialleistungen und Unterstützung ihnen zustehen. Sie informiert sie aber auch über die Möglichkeit, das Kind freizugeben. „Ich zeige verschiedene Wege auf.“
Weniger Neonatizide
Die Legalisierung der anonymen Geburt war mit der Hoffnung verbunden, die Tötung von Neugeborenen zu vermindern. Laut der Psychiaterin Claudia Klier, die zu dem Thema forscht, ist das auch gelungen. Die Zahl der Neonatizide habe sich nach 2001 „signifikant verringert“, wie die Expertin feststellte.
Ein weiteres Angebot für Mütter, die ihr Kind anonym abgeben möchten, sind die Babyklappen. Derzeit gibt es österreichweit 15 davon. Im Vorjahr wurden vier Neugeborene in diesen Klappen abgegeben. Weit sicherer ist allerdings die anonyme Geburt: Eine Schwangere kann alle Vorsorgeuntersuchungen machen, bei der Geburt ist sie nicht allein.
Rational und gefasst
Alina Haller ist Hebamme und rät unbedingt dazu, sich Hilfe zu holen. Sie hat bereits zwei anonym Gebärende betreut. Wo Haller arbeitet, soll nicht in der Zeitung stehen, und auch ihren echten Namen will sie nicht verraten – um die Frauen zu schützen. Beide hätten erst durch die Wehen von ihrer Schwangerschaft erfahren, sagt Haller. Sie kamen allein ins Spital, „waren aber rational und gefasst“. Sie habe das als Selbstschutz wahrgenommen. Über die Beweggründe der Frauen hält sich die Hebamme bedeckt, nur so viel: Beide waren in Situationen, in denen ein Kind keinesfalls aufwachsen sollte. Sie entschieden sich also nicht dafür, weil sie kein Kind möchten, sondern weil sie sich für das Kind die bestmöglichen Chancen wünschen. Und sie wussten, dass andere das zu diesem Zeitpunkt besser schaffen als sie selbst. Dafür nahmen sie sogar ein kleines emotionales Trauma in Kauf.“
Eine der Frauen betreute Haller im Wochenbett, die andere bei der Entbindung. Dass sie anonym gebären wird, war erst klar, als die Schwangere im Türrahmen stand. „Ihr war es sehr wichtig, dass wir nichts sagen dürfen, wenn jemand anruft. Wir dürfen das sowieso nicht, aber sie hat das öfter betont.“
Eine anonyme Geburt laufe genauso ab wie jede andere Geburt. Mit einer Ausnahme: Der typische Smalltalk mit den Eltern fällt weg. Die Hebamme fragt nicht, wie die Schwangerschaft verlaufen ist, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist oder es Geschwister gibt. „Ich habe mich auf das Wesentliche beschränkt: wie es weitergeht. Damit die Frauen ein Gefühl der Kontrolle behalten.“Und nicht die Mutter habe das Neugeborene zu sich genommen, sondern die Hebammen.
Nach der Geburt vermittelt die Kinder- und Jugendhilfe das Kind an Adoptiveltern. Sie hegen meist schon lange einen Kinderwunsch und wurden in einem Seminar auf die Adoption vorbereitet. Die leibliche Mutter hat sechs Monate Zeit, sich umzuentscheiden und das Kind doch zu sich zu holen. Das passiert offenbar aber höchst selten.
Die Frauen bekommen einen Fußabdruck, falls sie das möchten. Sie haben die Möglichkeit, dem Kind ein Kuscheltier zu hinterlassen und einen Brief zu schreiben. Ist das Kind volljährig, kann es sich den Umschlag abholen. „Für die Kinder ist es wichtig zu wissen: Wie war das damals?“, sagt Haller. Möchte die Frau nichts schreiben, kann es das Krankenhauspersonal übernehmen. Haller hat damals ein paar Zeilen formuliert. An ihre Schlussworte erinnert sie sich noch gut: „Sei laut, frech und mutig.“Denn die Babys hätten nicht laut geschrien wie andere, bloß leise gewimmert.
Die Schuldgefühle bleiben
Die meisten Frauen, die anonym gebären, verlassen nach wenigen Stunden das Spital. Sie kehren zurück in ihr Leben, zu ihrer Familie, in ihre Arbeit. Als wäre nichts gewesen. Aber die Schuldgefühle bleiben, weiß Psychologin Krenn-Gugl. Ebenso die stetigen Gedanken an das Kind. „Das ist eine besondere Form des Mutterseins. Wir nennen diese Mütter ,Herkunftsmütter‘.“
Einige Frauen, die sie beraten hat, melden sich nach der Entbindung noch einmal bei der Psychologin. „Anfangs sind sie meist erleichtert. Dann kommen aber die Trauer, das Realisieren, was passiert ist.“Manche würden sich wünschen, regelmäßig Fotos übermittelt zu bekommen. Aber nicht jede möchte das. „Indem sie auf Distanz gehen, schützen sie sich.“Das ändere nichts daran, dass sie nach wie vor darüber nachdenken, wie es dem Kind jetzt wohl geht. „Insbesondere zu speziellen Terminen wie seinem Geburtstag oder zu Weihnachten. Sie fragen sich: Wie groß ist es? Ist es auch so sportlich wie ich? Oder: Hat es auch die Liebe zur Musik entdeckt?“Es seien ganz alltägliche Themen, die die Herkunftsmütter beschäftigen. „Und das hört auch nicht auf.“