In Angst vor „Nu“
Die Welt hat noch genug damit zu tun, die Auswirkungen der Delta-Variante zu meistern – doch nun sorgt die Nachricht von einer neuen Mutante für Sorgen. Beginnt die Corona-Pandemie damit gleichsam von neuem?
Die Regierungen allerorten waren gerade dabei, mit mehr oder minder tauglichen Maßnahmen auf die wieder ansteigenden Infektionszahlen im Zusammenhang mit der Virusvariante Delta zu reagieren. Dann kam am Donnerstag die Nachricht von einer neuen, potenziell hochgefährlichen Spielart: In Südafrika verbreite sich die Variante B.1.1.529 – und diese sei nicht nur sehr ansteckend, sondern könne möglicherweise auch den Schutzschild der bisher eingesetzten Impfstoffe leichter als bisher durchdringen, warnten Fachleute.
Besonders rasch reagierte Israel – aber im Kampf gegen das Coronavirus ist selbst ein hohes Tempo mitunter nicht schnell genug. Die Einreiseverbote für Personen aus zahlreichen süd- und zentralafrikanischen Ländern sowie ein damit zusammenhängendes Quarantäneregime reichten nicht aus: Mindestens vier Personen hatten die hochansteckende Variante offenbar bereits eingeschleppt, meldeten israelische Medien.
Damit aber nicht genug: Zwei Personen hätten zudem die Quarantänebestimmungen nicht eingehalten, eine von ihnen sei sogar per Bus in die sechs Fahrtstunden entfernte südisraelische Stadt Eilat gefahren und sei dabei mindestens ein Mal umgestiegen. Alle vier Betroffenen seien übrigens geimpft, heißt es am Freitag im Gesundheitsministerium.
Trotz allem zu langsam?
Rückblickend wären die israelischen Notfallmaßnahmen fast nutzlos gewesen: Der erste entdeckte Infizierte ist nämlich ein Israeli, der aus Malawi eingereist war. Das Land stand zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf der Liste, der Patient hätte nicht einmal in Quarantäne gehen müssen. Es war ein Glücksfall, dass der bei der Ankunft am Tel Aviver Flughafen durchgeführte PCR-Test so rasch ein Ergebnis brachte.
Den ersten Fall auf EU-Territorium verzeichnete dann am Freitagnachmittag Belgien. Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke mahnte zur Vorsicht, aber unterstrich auch, dass Panik nicht angebracht sei.
Zu diesem Zeitpunkt hatten etliche europäische Länder bereits Einreisebeschränkungen oder gar -verbote aus der betroffenen südafrikanischen Region verhängt: Den Anfang machte am Donnerstagabend Großbritannien – in der EU waren es dann in rascher Folge unter anderen Österreich, Italien, die Niederlande, Tschechien und Frankreich. Bereits am Freitagvormittag hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Mitgliedsländer zu solchen Schritten aufgefordert.
Ein Expertengremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) begann am Freitagnachmittag mit Beratungen über die Einstufung der neuen Virusvariante. Es ging dabei unter anderem um die entscheidende Frage, ob die Mutante als „besorgniserregende Variante“(„variant of concern“) oder als „Variante unter Beobachtung“(„variant of interest“) klassifiziert werden soll.
Schlimmstenfalls zurück zum Start
Die am Freitag von der Weltgesundheitsorganisation offiziell „Nu“getaufte Variante – benannt nach dem Buchstaben im griechischen Alphabet (in englischer Schreibweise) – könnte laut Experten im schlimmsten Fall dazu führen, dass die Pandemie quasi noch einmal von neuem beginnt.
Die Sorge der Fachwelt erklärt sich unter anderem daraus, dass die Virusvariante gleich 32 Mutationen auf einmal allein im Spike-Protein aufweist und viele der problematischen Veränderungen der bereits bekannten und besorgniserregenden Mutanten Alpha, Beta, Gamma und Delta gleichsam vereinigt. Dazu kommen aber noch weitere Mutationen.
Die vergleichsweise positive Nachricht: Sowohl die internationalen Experten wie auch Südafrikas Gesundheitsminister Joe Phaala handelten extrem schnell und machten das Problem, das erst am Dienstag erkannt worden war, bereits am Donnerstag weltweit publik – eine in der bisherigen Pandemie einzigartige Vorgehensweise.
Keine eindeutigen Antworten
Wie infektiös ist Nu/B.1.1.529 eigentlich? Wie gut weicht die Variante dem Immunschutz durch bisherige Impfungen und Infektionen aus? Und wie schwer sind die Krankheitsverläufe? Auf alle drei Fragen gibt es noch keine eindeutigen Antworten. Fachleute sprechen von einer höheren Infektiosität und einer größeren Immunevasion. Noch aber fehlen genaue Labordaten; sie werden in spätestens zwei Wochen erwartet.
Hinsichtlich der Ansteckungsgefahr gibt es ebenfalls nur sehr vorläufige Hinweise. In der betroffenen südafrikanischen Provinz Gauteng (im Wesentlichen die Großstädte Johannesburg und Pretoria), wo bisher Delta dominant war, stiegen die Infektionszahlen zuletzt exponentiell. Die effektive Reproduktionszahl R(eff) könnte bis zum Wert 2 steigen – was nach wenig klingt, aber katastrophal wäre. Denn: Jede infizierte Person steckt unter den aktuellen Bedingungen in Südafrika im Schnitt zwei weitere an. Zum Vergleich: Beim sehr starken Anstieg der Infektionszahlen in Österreich stieg R(eff) zuletzt nie über 1,28.
Sämtlichen Monitoring-Stellen in Österreich waren bis Freitagnachmittag keine Fälle der neuen Variante bekannt. Das berichtete Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) am Freitag per Twitter. Auch im österreichischen Abwasser-Monitoring wurde sie bisher nicht nachgewiesen.
Das Pharmaunternehmen Biontech hat jedenfalls bereits reagiert und prüft eine mögliche Anpassung seines mRNA-Impfstoffs. „Wir können die Besorgnis von Experten nachvollziehen und haben unverzüglich Untersuchungen zur Variante Nu/B.1.1.529 eingeleitet“, sagte ein Sprecher am Freitag. „Die Variante unterscheidet sich deutlich von bisher beobachteten Varianten, da sie zusätzliche Mutationen im Spike-Protein hat.“
Warten auf Daten
Bei Biontech erwartet man sich in den nächsten Tagen erste Daten, ob es sich um eine sogenannte Escape-Variante handeln könnte, die eine Anpassung des mRNA-Impfstoffs Comirnaty erforderlich macht, wenn sich diese Variante international ausbreitet. Biontech hat für einen solchen Fall nach eigenen Angaben schon vor Monaten mit seinem US-Partner Pfizer Vorbereitungen getroffen. Der mRNAImpfstoff soll dann innerhalb von sechs Wochen angepasst werden. Erste Chargen des angepassten Impfstoffs könnten innerhalb von 100 Tagen ausgeliefert werden.
Der österreichische Impfstoffexperte Florian Krammer (Icahn School of Medicine, Mount Sinai in New York) vermutet ebenfalls, dass es sich bei der neuen Variante um die erste handeln könnte, die eine Anpassung von Impfstoffen notwendig macht. Zur Einschätzung brauche es aber noch mehr Daten: „Es ist zu früh, um etwas dazu zu sagen.“