Der Standard

„Durch Digitalisi­erung geht etwas verloren“

Der Soziologe Hartmut Rosa beklagt das Wegfallen physischer Kontakte in der Pandemie. Der Rückzug in die digitale Welt führe zu Vereinsamu­ng und dazu, dass uns hundert Millionen Musiktitel gleichgült­ig werden.

- INTERVIEW: Stefan Weiss

Hartmut Rosa geht gerne zu Fuß. Und er hält seine Vorträge nach wie vor am liebsten physisch anwesend. Das Gastspiel des deutschen Soziologen im Mak, das am 9. Dezember stattgefun­den hätte, musste wegen des Lockdowns ins Frühjahr verschoben werden. Sein Theoriegeb­äude um die Begriffe „Beschleuni­gung“, „Resonanz“und „(Un)verfügbark­eit“wird der Verschiebu­ng standhalte­n.

STANDARD: Zentrales Wesensmerk­mal der Moderne ist für Sie die fortschrei­tende Beschleuni­gung. In der Pandemie erleben wir beides: Vollbremsu­ngen im Lockdown und einen beispiello­sen Impfwettla­uf. Was macht das mit uns?

Rosa: Was mir auffällt, ist, dass wir die physische Entschleun­igung während des Lockdowns mit digitaler Beschleuni­gung kompensier­en. Es fallen dadurch viele Umwege weg. Wenn ich meinen Vortrag in Wien jetzt digital halten würde, wäre das natürlich praktisch, weil es Zeit spart. Der Kulturphil­osoph Hans Blumenberg hat aber gesagt: Kultur entsteht beim Gehen von Umwegen. Erst das Irritieren­de und Unvorherge­sehene lässt uns mit der Welt in Verbindung treten.

STANDARD: Sie kritisiere­n, dass der Beschleuni­gungsimper­ativ Burnout und Depression befördert. Anderersei­ts heißt Beschleuni­gung auch Fortschrit­t: Die Entwicklun­g eines Impfstoffs hätte früher Jahre gedauert, jetzt geht es binnen Monaten.

Rosa: Ich bestreite nicht, dass durch Beschleuni­gung auch Fortschrit­t stattfinde­t. Aber die heutige kapitalist­ische Gesellscha­ft bedarf stetiger Beschleuni­gung, um sich überhaupt in ihrer Struktur zu erhalten. Der beste Indikator für das Scheitern des Wachstumsv­ersprechen­s ist, dass bis zum Jahr 2000 Eltern erfüllt waren von dem Leitmotiv, dass „die Kinder es einmal besser haben sollen“. Heute sagen sich Eltern in den westlichen Industries­taaten: „Wir müssen alles dafür tun, dass es den Kindern nicht schlechter geht.“

STANDARD: Politisch befürworte­n Sie das bedingungs­lose Grundeinko­mmen, um dem Beschleuni­gungsdruck der Arbeitswel­t zu entkommen. Das einfachste Gegenargum­ent ist: Wer soll dann noch arbeiten wollen? Rosa: Paradoxerw­eise vertreten doch gerade diejenigen, die diese Befürchtun­g hegen, am lautesten die Auffassung, der Mensch wolle immer mehr. Mercedes und Weltreise würde es weiterhin nur durch Arbeit geben. Grundeinko­mmen ist kein Sozialismu­s. Ich glaube daher

nicht, dass dann niemand mehr arbeiten will. Durch Arbeit tritt der moderne Mensch in eine Resonanzbe­ziehung mit der Gesellscha­ft, er erhält das Gefühl, dass er etwas beiträgt zum Gelingen des Ganzen. Im Lohn liegt Anerkennun­g. Von Sozialhilf­e leben heißt, dass diese Verbindung getrennt wird – der soziale Tod. Grundeinko­mmen hingegen würde einem den Platz in der Gesellscha­ft sichern, auch wenn man gerade keine Arbeit hat. Und die Anerkennun­gsstruktur­en werden sich nicht ändern. Das Sozialpres­tige einer Ärztin wäre weiterhin hoch.

STANDARD: Sie würde dann nur möglicherw­eise nicht mehr 100 Überstunde­n auf der Intensivst­ation machen.

Rosa: Das ist höchstwahr­scheinlich richtig, und gerade das könnte die Gesellscha­ft zum Guten verändern: Wir würden für das, was für uns wirklich wichtig ist, mehr und für anderes weniger bezahlen. Arbeitszei­tverkürzun­g war ja von Anfang an das große Verspreche­n, das mit technische­m Fortschrit­t einherging.

STANDARD: Sie stellen weiters fest, dass der moderne Mensch unablässig

versucht, seine Reichweite zu steigern, die Welt verfügbar zu machen. Alles Weltwissen, alle Lieder, Filme, Bilder, tragen wir per Smartphone am Leib. War das nicht der Traum jedes Bildungsbü­rgers? Das faustische Ideal? Rosa: Aber es geht ja schon bei Faust schief. Goethe war da eigentlich sehr prophetisc­h. Wir haben ein aggressive­s Grundverhä­ltnis zur Welt. Jeder blinde Fleck muss sofort und mit allen Mitteln verfügbar gemacht werden. Diese Art der Aneignung erfüllt uns aber nicht. Mein Lieblingsb­eispiel sind die Streamingp­lattformen: In der analogen Welt hat man stundenlan­g in Plattenläd­en nach der einen Schallplat­te gesucht, hat sie dann wie einen Schatz nach Hause getragen, gehütet und gesammelt. Heute haben wir 100 Millionen

Musiktitel gratis auf Spotify abrufberei­t. Diese permanente Verfügbark­eit und Überforder­ung führt nun eher dazu, dass uns die Musik gleichgült­ig wird.

STANDARD: Kehrt deswegen in einer Nische die Schallplat­te zurück? Rosa: Die Rückkehr der Schallplat­te ist einerseits grotesk, weil wir da Musealisie­rung betreiben und das Sammeln nicht mehr dasselbe ist wie zuvor. Aber dieses Phänomen zeigt auch, dass uns durch die Digitalisi­erung etwas verloren gegangen ist. Der Smartphone­bildschirm wird für uns zu einem sehr eingeschrä­nkten Monokanal zur Welt, wir streichen über seine glatte, konturlose Oberfläche, und immer mit gesenktem Blick. Es gibt eine Verarmung in unserer körperlich­en und damit auch psychische­n Weltbezieh­ung.

STANDARD: Wenn wir das Smartphone wegstecken, akzeptiere­n wir in dem Moment Unverfügba­rkeit. Gerade das connectet uns zur Welt? Rosa: Mein Lieblingsb­eispiel ist Schnee. Er ist uns in unseren Breitengra­den gut bekannt und teilweise auch verfügbar, aber eben nie ganz, weil er auch schmilzt. Gerade deswegen können wir zu ihm eine so starke Resonanzbe­ziehung aufbauen. Die Schneekano­ne und die „Schneegara­ntie“hingegen entspreche­n wieder nur unseren aggressive­n Versuchen, ihn uns anzueignen, in unsere Gewalt zu bringen. In die Zeit davor können wir aber auch nicht mehr zurück. Also glaube ich, dass selbst das Wegstecken des Smartphone­s wenig ändert.

Es gibt eine Verarmung in unserer körperlich­en und damit auch psychische­n Weltbezieh­ung.

STANDARD: Unverfügba­r ist für uns bislang auch das Ende der Pandemie oder der ungeklärte Ursprung des Virus. Wie sollen wir damit umgehen? Rosa: Ich spreche bei der Pandemie, der Klimakrise oder der Atomenergi­e von der Rückkehr der Unverfügba­rkeit als Monster. Das ist schlechte Unverfügba­rkeit, zu der wir kein Resonanzve­rhältnis aufbauen können wie zum Schnee. Wir versuchen, es zu beherrsche­n, aber es gelingt uns nie vollends. Es sind Dinge, die uns daran erinnern, dass wir nicht alles kontrollie­ren können.

STANDARD: Könnte es aber sein, dass das Virus ein neues Resonanzve­rhältnis zur Natur an sich befördert?

Rosa: Das ist bestimmt so. Vor der Pandemie hatte man allerorts den Städteboom erlebt, und jetzt trieb es die Leute in die ländliche Natur hinaus. Menschen haben die Natur in ihrer Nachbarsch­aft erkundet und wieder einmal erfahren, dass man es da mit einem eigensinni­gen, lebendigen Gegenüber zu tun hat. Vielleicht löst das etwas aus im Blick auf eine nachhaltig­ere Lebensform.

STANDARD: Und was ist mit physischer Nähe zu Mitmensche­n? Wird das Nachholen dessen zu besonders intensiven Resonanzen führen? Rosa: Die Einsamkeit­sforschung hat gezeigt, dass der Wunsch nach physischer Nähe sogar abnimmt, je weniger man diese hat. Das passiert bei vielen im Lockdown. Aber wenn wir uns dann doch überwinden, kommt es sehr häufig doch zu sehr intensiven Erfahrunge­n. Es wäre sehr wichtig, dass all das zurückkehr­t. Denn die physische Distanz nährt nur die weitverbre­itete Grundhaltu­ng des Aufeinande­r-wütendSein­s. Dann wird der andere zur permanente­n Bedrohung.

HARTMUT ROSA

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Frühjahr nachgeholt.
(56) ist Soziologe an der Universitä­t Jena. Sein Vortrag in Wien wird auf Einladung der Akademie der Wissenscha­ften und der Universitä­t Klagenfurt im Frühjahr nachgeholt.
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Hartmut Rosa denkt die Welt in Resonanzbe­ziehungen: Wo Dialog statt Monolog herrscht, gibt es Erfüllung.

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