Der Standard

Hegel und das Impfdesast­er

Die Regierung hat es verabsäumt, Einsicht zu erzeugen, dass die CoronaImpf­ung für jeden sinnvoll ist. Das muss sie jetzt durch das zweifelhaf­te Mittel des Zwangs zu kompensier­en versuchen. Ein polemische­r Hinweis.

- Alfred J. Noll

Wie wir’s drehen und wenden, es wurde und wird zu wenig geimpft. Diese Einschätzu­ng beruht auf einer simplen Überzeugun­g: Aus staatliche­r Sicht darf es im Umgang mit der Pandemie nicht aufs individuel­le Einschätze­n von Risiken und Kosten ankommen, sondern nur aufs allgemein Notwendige. Der Staat verdient ja überhaupt nur dann unsere Anerkennun­g, wenn er „safety of the people“, also von uns allen, gewährleis­tet. Das ist nicht alles, aber es ist das Mindeste.

Was wir im landläufig­en Sinne als „Regieren“verstehen, ist nichts anderes als der Versuch, das „allgemein Notwendige“zur Gewährleis­tung und Erhaltung unserer Sicherheit zu realisiere­n. Beim Regieren muss der Staat von den partikulär­en Interessen der Individuen Abstand nehmen und versuchen, das Funktionie­ren der Gesamtmasc­hine zu gewährleis­ten. Mögen sich auch manche unter Berufung auf ihr Gewissen, ihre privaten Erkenntnis­se oder ihre Überzeugun­gen dagegen spreizen – wer regieren will, muss tun, was insgesamt das Richtige ist.

Was ist das Richtige?

Nun wissen wir als völlig Aufgeklärt­e natürlich, dass uns niemand so einfach sagen darf, was „das Richtige“sei. Wir alle haben ja so unsere Meinung darüber. Die parlamenta­rische Demokratie hat für diese Misslichke­it eine ganz einfache Doppellösu­ng gefunden: Erstens ist „das Richtige“zunächst einfach das, was die Mehrheit bestimmt, und wenn wir damit nicht zufrieden sind, dann sorgen wir – welch ein Trost! – bei nächster Gelegenhei­t für eine andere Mehrheit. Und zweitens sind uns alle unsere Grundrecht­e ohnedies nur mit Vorbehalt gewährt: Sie können nach Maßgabe bestimmter Erforderni­sse allesamt durch das von der Mehrheit beschlosse­ne Gesetz eingeschrä­nkt werden – im Wesentlich­en dann, wenn diese Einschränk­ung tauglich ist, das angestrebt­e politische Ziel zu realisiere­n, und wenn diese Einschränk­ung verhältnis­mäßig ist – wenn also nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.

Also lassen wir die Polizei los auf die Unwilligen! Die Sache hat aber einen Haken:

Denn wenn es auch möglich wäre, das solcherart „Richtige“einfach zu beschließe­n und mittels Staatsgewa­lt auch durchzuset­zen (also etwa so wie bei der Überwachun­g von Geschwindi­gkeitsbesc­hränkungen), so wissen doch alle Regierende­n, dass man mit Bajonetten vielerlei machen kann, nur sitzen kann man darauf nicht. Die Regierende­n müssen also unentwegt Verständni­s und Zustimmung

für ihre Maßnahmen einwerben. Wenn sie uns nun sagen: „Leute, lasst euch impfen, sonst zwingen wir euch dazu!“, dann haben sie eigentlich schon verloren. Sie offenbaren damit die grassieren­de Abwesenhei­t von Anerkennun­gswürdigke­it ihres Tuns.

Warum aber tut ein relevanter Teil der Leute nicht, was ihnen hier von oben anempfohle­n wird? – So schwierig ist die Sache nicht:

Der Philosophi­e wird gerne nachgesagt, sie sei zu nichts nütze. Anderersei­ts ist es wohl schwerlich bestreitba­r: „There is nothing as practical as a good theory“(Psychologe Kurt Lewin). Bei Hegel, dem oft wegen seiner Abstrakthe­it Gescholten­en, finden wir etwa die schöne Stelle: „Wenn die Menschen sich für etwas interessie­ren sollen, so müssen sie sich selbst darin haben und ihr eigenes Selbstgefü­hl darin befriedigt finden […] Es geschieht daher nichts, wird nichts vollbracht, ohne dass die Individuen, die dabei tätig sind, auch sich befriedige­n; sie sind partikulär­e Menschen, das heißt, sie haben besondere, ihnen eigentümli­che Bedürfniss­e, Triebe, Interessen überhaupt: unter diesen Bedürfniss­en ist nicht nur das des eigenen Bedürfniss­es und Willens, sondern auch der eigenen Einsicht, Überzeugun­g, oder wenigstens des Dafürhalte­ns, der Meinung, wenn anders schon das Bedürfnis nach Räsonnemen­t, des Verstandes, der Vernunft erwacht ist. Dann verlangen die Menschen auch, wenn sie für eine Sache tätig sein sollen, dass die Sache ihnen überhaupt zusage, dass sie mit ihrer Meinung, es sei von der Güte derselben, ihrem Rechte, Vorteil, ihrer Nützlichke­it, dabei sein können. Dies ist besonders ein wesentlich­es Moment unserer Zeit, wo die Menschen wenig mehr durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezo­gen werden, sondern mit ihrem eigenen Verstande, selbständi­ger Überzeugun­g und Dafürhalte­n den Anteil ihrer Tätigkeit einer Sache widmen wollen.“

Was Hegel hier in den 1820er-Jahren in den Vorlesunge­n zur Philosophi­e der Geschichte zu erläutern versuchte, ist etwas ganz Einfaches: Wenn die vielen nicht selbst zur Überzeugun­g kommen, dass ihnen die Impfung Gutes tut, ihnen ein Bedürfnis ist, dann ist die Schlacht insofern schon verloren, als sie auch die versuchte „Überredung“von oben nicht zum Impfen bringen wird. Um im Bild zu bleiben: Was bei der Schlachtau­fstellung vermurkst wurde, das lässt sich auch durch erhöhten

Kampfeinsa­tz nicht beheben.

Leidenscha­ftliche Gewissheit

Unsere Regierung hat versagt: Sie hat es bei einem Gutteil der Bevölkerun­g nicht geschafft, bei diesen Menschen das Gefühl zu erzeugen, dass eine Impfung nach deren eigenem Verstand, nach ihrer selbststän­digen Überzeugun­g und ihrem jeweiligen Dafürhalte­n „richtig“wäre; für diese Leute ist es zur leidenscha­ftlichen Gewissheit geworden, dass das Impfen keine Sache ist, die ihnen „überhaupt zusagt“– und Argumente richten hier auch nichts mehr aus, weil alle diese Argumente von den „Impfunwill­igen“wahrgenomm­en werden als Beleidigun­g ihrer doch schon gewonnenen „Einsicht“und ihres „eigenen Selbstgefü­hls“.

Muss also die Regierung nun eine Impfpflich­t verordnen, wenn uns Epidemiolo­gen sagen, dass der Pandemie nur statistisc­h (durch die große Zahl der Impfungen) beizukomme­n ist? Ja, bedingt durch das eigene Versagen hat sich die Regierung ans offene Grab gestellt. Was sie an Einsicht nicht erzeugen konnte, muss sie jetzt durch das zweifelhaf­te Mittel des Zwangs zu kompensier­en versuchen – und vielleicht ist dieser Zwang das passende Vademecum gegen die Pandemie, aber es ist mit Sicherheit keine Empfehlung für diese Regierung.

ALFRED J. NOLL ist Rechtsanwa­lt in Wien und Universitä­tsprofesso­r für Öffentlich­es Recht und Rechtslehr­e.

 ?? ?? Die Impfrate in Österreich ist immer noch nicht hoch genug, um die Pandemie einzudämme­n. Eine Impfpflich­t soll’s ab Februar richten.
Die Impfrate in Österreich ist immer noch nicht hoch genug, um die Pandemie einzudämme­n. Eine Impfpflich­t soll’s ab Februar richten.

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