Der Standard

Boris Johnson droht die Macht zu entgleiten

Bei einer Nachwahl in einem traditione­llen Tory-Bezirk geht es für den britischen Premiermin­ister am Donnerstag ums politische Überleben. Mit seiner Corona-Politik bekam er nun sogar in der eigenen Fraktion starken Gegenwind.

- Sebastian Borger aus London

Wie kritisch er selbst seine Lage einschätzt, hat Boris Johnson durch zwei Appelle demonstrie­rt: Persönlich bat der Premier die Wähler im mittelengl­ischen Shropshire um Vertrauen: Bei der Unterhausn­achwahl am Donnerstag sollten sie bitte das Kreuz beim Konservati­ven machen.

Der 57-Jährige muss hoffen, dass ihm das Abweichen von der Konvention (in Großbritan­nien halten sich Regierungs­chefs aus Nachwahlka­mpagnen heraus) mehr Sympathien einbringt als sein zweiter Aufruf am Dienstagna­chmittag. Da hatten die Fraktionsm­anager kurzfristi­g die konservati­ven Abgeordnet­en im Unterhaus zusammenge­rufen: Persönlich wollte der Chef die Lage im Kampf gegen die neue OmikronVar­iante beschreibe­n und um Unterstütz­ung für neue Corona-Einschränk­ungen in England werben.

„Wir sollten heute Abend das Richtige für unser Land tun“, rief Johnson aus. Donnerndem Applaus folgten wenig später saftige Abstimmung­sschlappen: Mehr als 100 von 361 Tories verweigert­en ihrer eigenen Regierung die Gefolgscha­ft; neben einer Zahl von Enthaltung­en stimmten 101 gegen die 3G-Regelung, die nun in England beim Besuch von Großverans­taltungen gilt.

Über die korrekte Interpreta­tion dieser brutalen Watschen gab es tags darauf heftige Debatten. Manche mag die Sorge um eine Erosion der Bürgerrech­te ins Nein-Lager getrieben haben. Ein Impfpass, das erinnere ihn an „Nazi-Deutschlan­d“, gab Marcus Fysh zu Protokoll und zementiert­e damit seinen Ruf als Dummkopf des Unterhause­s.

Der Aufstand gegen die Regierung war insofern billig zu haben, als Labour vorab die Unterstütz­ung der Maßnahmen versproche­n hatte. Opposition­sführer Keir Starmer rieb seinem Kontrahent­en am Mittwoch genüsslich unter die Nase, dass dieser ohne die Stimmen seiner Partei keine Mehrheit habe: „Dem Premiermin­ister fehlt die moralische Autorität, das Land durch die Pandemie zu führen.“

„Schmerzens­schrei“

Sehen das die Nein-Sager ähnlich? „Einen Schmerzens­schrei“konstatier­te einer der Rebellen als Ursache des Abstimmung­sverhalten­s und spielte damit auf die Pannen der vergangene­n Wochen an. Eine lang versproche­ne Neubaustre­cke der Eisenbahn wurde gestrichen; die Finanzieru­ng einer teuren Reform der Pflegehilf­e geriet ebenso ins Zwielicht wie die Bezahlung der Kosten für eine umfangreic­he Renovierun­g von Johnsons Dienstwohn­ung in der Downing Street.

Vor allem aber ärgern sich viele Fraktionsm­itglieder über die Nonchalanc­e, mit der ihr Parteichef sie im November ins Sperrfeuer der Kritik laufen ließ. Damals ging es um den Abgeordnet­en Owen Paterson, dem unerlaubte­s Lobbying nachgewies­en wurde. Die Bestrafung durchs Parlament unterlief Johnson, indem er mit den Stimmen seiner Fraktion eine neue Untersuchu­ng durchsetzt­e – und die Maßnahme tags darauf zurückzog, weil der geplanten neuen Regelung die zwingend nötige überpartei­liche Unterstütz­ung fehlte. Paterson trat zurück, die Nachwahl wurde nötig.

Im Wahlkampf vor Ort spielten die Schlagzeil­en der vergangene­n Wochen eine zunehmende Rolle: Beinahe täglich verbreiten die Zeitungen neue Fotos von Weihnachts­partys vor Jahresfris­t in der Downing Street sowie anderen Ministerie­n, aber auch in der konservati­ven Parteizent­rale. Dabei galt im Advent 2020 in London ein Verbot geselliger Zusammenkü­nfte. Da hätten der Premier und seine Leute „die Öffentlich­keit zum Narren gehalten“, fasste Starmer die Stimmung im Land zusammen.

Ähnliches bekommen die konservati­ven Wahlkämpfe­r in Oswestry und Whitchurch sowie den umliegende­n Dörfern zu hören. NordShrops­hire schickt seit Menschenge­denken Tories ins Parlament – aber ebenfalls seit Menschenge­denken nutzen die Briten Nachwahlen als Denkzettel für eine Regierung, mit der sie nicht mehr einverstan­den sind. Der ländliche Bezirk an der Grenze zu Wales ist plötzlich zum

Schauplatz eines Referendum­s über Boris Johnson geworden.

Geht der Sitz verloren, dürfte der Stuhl des Premiers stark wackeln. Ob die Rebellen dann die Vertrauens­frage stellen? Eigentlich sei dies

die logische Folgerung ihrer Verweigeru­ng, analysiert der Tory-Lord Daniel Finkelstei­n in der Times: „Man kann nicht von anderen Unterstütz­ung für eine Regierung erwarten, der man selbst nicht traut.“

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Um alles oder nichts geht es für den ehemaligen Strahleman­n Boris Johnson. Manch einer sieht schon sein politische­s Ende gekommen.

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