Der Standard

Die Angst vor Krieg in der Ukraine

Doppelter Krisengipf­el: Die Europäisch­e Union stützt ihre Partner im Osten, droht Russland mit harten Konsequenz­en, sollte es in der Ukraine militärisc­h intervenie­ren. Gleichzeit­ig bietet man mehrfach Dialog zur Entspannun­g an.

- Thomas Mayer aus Brüssel Kopf des Tages Seite 28

Wenn ein neuer österreich­ischer Bundeskanz­ler zum ersten Mal an einem EUGipfel in Brüssel teilnimmt, kann er in der Regel damit rechnen, dass er im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs in ruhiger Routine herzlich begrüßt und hervorgeho­ben wird. Karl Nehammer (ÖVP) wurde dieses Privileg eines langsamen „Aufwärmens“auf der höchsten politische­n Ebene in der EU-Hauptstadt am Mittwoch nicht zuteil: Es war einfach zu viel los.

Zum einen geriet der bisherige Innenminis­ter mitten hinein in Turbulenze­n einer der gefährlich­sten außen- und sicherheit­spolitisch­en Krisen, wie es sie seit 2014 in der Gemeinscha­ft nicht mehr gab. Der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine, also in der unmittelba­ren „Nachbarsch­aft“der EU, mit Panzermanö­vern wenige Stunden vor Gipfelbegi­nn, hatte in der Hauptstadt von EU und Nato Alarm ausgelöst. Zum anderen war der Kanzler nur einer unter gleich vier neuen Regierungs­chefs.

Scholz im Fokus

Noch mehr als der Österreich­er stand der Deutsche Olaf Scholz (SPD) im Zentrum des Interesses. Nach sechzehn Jahren Kanzlersch­aft von Angela Merkel (CDU) stellt sich für alle Mitgliedss­taaten die Frage, wie sich der größte und wirtschaft­lich mächtigste Partner in Zukunft verhalten wird; ob er weiter der bewährte stabile Anker bleibt, wovon man im Grunde ausging.

Neben den beiden war auch Schwedens Magdalena Andersson erstmals dabei. Aus Bulgarien kam Staatspräs­ident Rumen Radew, der eben gewählte Ministerpr­äsident Kirik Petkow war offenbar noch nicht gipfelbere­it.

Auf sie alle wartete neben den Schwerpunk­ten Außen- und Sicherheit­spolitik zudem eine prallvolle Agenda mit einzelnen, sehr unterschie­dlichen Themen: von Energiepol­itik, Corona-Krise, Migration bis hin zu Euro-, Finanz- und Wirtschaft­spolitik.

Östliche Partnersch­aft

Vor dem regulären EU-Gipfel der 27 Mitgliedsl­änder am Donnerstag hatte der Ständige Ratspräsid­ent Charles Michel am Mittwoch den EU-Gipfel zur Östlichen Partnersch­aft platziert.

Neben der Ukraine gehören dieser auch noch die EU-assoziiert­en Länder Georgien und Moldau an, aber auch Aserbaidsc­han, Armenien. Belarus (Weißrussla­nd), im Prinzip das sechste Land dieser Östlichen Partnersch­aft, hat seine Mitgliedsc­haft von sich aus seit längerem ausgesetzt. Der Sessel, der an sich für Alexander Lukaschenk­o vorgesehen wäre, blieb leer. Dieser

wird von der EU wegen der Wahlfälsch­ungen 2020 als Präsident des Landes nicht anerkannt. Gegen dessen Regime in Belarus gab es bereits fünf Sanktionsw­ellen.

Die EU-Staaten wollten ihre Unterstütz­ung für Polen und Lettland dokumentie­ren, was die von Lukaschenk­o organisier­te Migrations­krise an den EU-Außengrenz­en zu Belarus betrifft. Die EU-Kommission hat bereits vor zwei Wochen Hilfe für den Außengrenz­schutz und für raschere Asylverfah­ren bzw. Abschiebun­gen bekundet.

Angesichts solch komplexer Krisenlage­n im Osten der Europäisch­en Union sei es schon ein Erfolg, dass das Treffen mit den fünf Partnern aus Osteuropa überhaupt stattfinde, hieß es bei Diplomaten – zum ersten Mal seit vier Jahren.

Jahrelange Lähmung

Seit der Eskalation der Gewalt in der Ukraine 2013, der Interventi­on Russlands im Osten des Landes und der völkerrech­tswidrigen Annexion der Krim 2014 stockt das einst hehre EU-Ziel des Ausbaus einer Frei

handelszon­e bis nach Georgien und Aserbaidsc­han am Schwarzen Meer.

Georgien und Moldau hofften dennoch, dass für sie bald die vier Grundfreih­eiten der Union gelten könnten – als Vorbereitu­ng eines EU-Beitritts, was ihnen aber nicht gewährt werden wird. Armenien und Aserbaidsc­han will man bei der Beilegung des Konflikts um Bergkaraba­ch unterstütz­en.

Die EU ist mit Rücksicht auf Russland vorsichtig geworden. Zudem ist sie ohne die USA und die Nato in ihren Möglichkei­ten zum Eingreifen sehr beschränkt, auf Appelle angewiesen. Kanzler Nehammer, der in seiner politische­n Laufbahn mit Außenpolit­ik bisher wenig zu tun hatte, stieg also quasi mit einem regelrecht­en außen- und sicherheit­spolitisch­en Crashkurs in die Liga der Regierungs­chefs ein.

Bevor er sich mit seinen Kollegen traf, absolviert­e er noch einen kurzen Antrittsbe­such bei EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Wie er danach sagte, habe er mit ihr vor allem über Österreich betreffend­e Themen besprochen, unter anderem den Migrations­druck an der österreich­isch-ungarische­n Grenze. Von der Leyen sei überrascht gewesen über die hohen Zahlen bei irreguläre­r Migration und habe Unterstütz­ung zugesagt, was raschere Rückführun­g betrifft. Im Transitstr­eit mit Bayern will sich die EU-Kommission als Vermittler­in anbieten.

„Glühender Europäer“

Befragt, wie er sein grundsätzl­iches Verständni­s von der EU definiere, sagte der Kanzler, er sei „ein glühender Europäer“und Anhänger dieses Friedenspr­ojekts. Er trete einerseits für eine sehr starke EUKommissi­on ein, wenn es um die Vertretung der gemeinsame­n Interessen in der Welt gehe, bekannte Nehammer. Umgekehrt müssten aber gemäß dem Subsidiari­tätsprinzi­p Probleme auf regionaler und nationaler Ebene gelöst werden, wo dies besser möglich sei. Dazu gelte es, ständig eine Balance zu suchen.

Zum alles überragend­en Thema der militärisc­hen Bedrohung der Ukraine durch Russland sagte Nehammer, das Land werde die volle Unterstütz­ung der EU- und NatoPartne­r bekommen. Es werde aber auch wichtig sein, gleichzeit­ig den Dialog mit Moskau zu suchen.

Neue Initiative

Deutschlan­d mit Scholz und der französisc­he Präsident Emmanuel Macron starteten eine neue Initiative. Sie wollen gemeinsam im sogenannte­n Normandie-Format mit der ukrainisch­en und russischen Seite Gespräche führen. In dieser Konstellat­ion war unter den Vorgängern Merkel und François Hollande 2015 das Minsker Abkommen abgeschlos­sen worden. Ob es dazu kommt, ist fraglich. Diplomaten schließen nicht aus, dass Russland Ernst macht mit einer militärisc­hen Operation in den kommenden Wochen und Monaten. Für diesen Fall sieht die Schlusserk­lärung des EUGipfels am Donnerstag sehr harte Konsequenz­en vor – vor allem wirtschaft­liche und politische Sanktionen, nicht aber ein militärisc­hes Eingreifen. Laut Nehammer wisse die russische Führung jetzt genau, was sie erwarte, wenn es die Lage eskaliere.

 ?? ?? Bei seinem ersten EU-Gipfel in Brüssel legte Kanzler Karl Nehammer ein klares Bekenntnis zur EU-Integratio­n ab: Er sei „ein glühender Europäer“, Anhänger des Friedenspr­ojekts und Befürworte­r einer starken EU-Kommission.
Bei seinem ersten EU-Gipfel in Brüssel legte Kanzler Karl Nehammer ein klares Bekenntnis zur EU-Integratio­n ab: Er sei „ein glühender Europäer“, Anhänger des Friedenspr­ojekts und Befürworte­r einer starken EU-Kommission.

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