Der Standard

Das schwindend­e Gedächtnis der Gletscher

Die bildliche Erfassung von Gletschern begann zeitgleich mit deren Abtauen. Durch das Schmelzen der Eismassen verschwind­en nun auch Geo-Archive, bevor sie ausgewerte­t werden konnten.

- Johannes Lau

Der Gegenstand der Gletscherf­orschung ist ein verschwind­ender: Forscher der Universitä­t Erlangen-Nürnberg fanden im vergangene­n Jahr heraus, dass allein im Zeitraum von 2000 bis 2014 die Gletscher der europäisch­en Alpen 17 Prozent ihres Volumens verloren haben. Der Grund ist weithin bekannt – die vom modernen Menschen massiv angekurbel­te Erderwärmu­ng. Das Bild der schmelzend­en Gletscher ist inzwischen auch zu einer Metapher geworden für die massive Erwärmung des Planeten.

Die Vorstellun­g, dass sich gerade an Gletschern klimatisch­e Veränderun­gen ablesen lassen, ist jedoch viel älter als die zeitgenöss­ische ökologisch­e Diskussion und reicht weit in die Fachgeschi­chte der Glaziologi­e zurück: „Ein zentraler Topos der Beschäftig­ung mit Gletschern im späten 19. Jahrhunder­t war die Vorstellun­g, dass sie ein von der Natur selbst hergestell­tes Rieseninst­rument darstellen, an dessen Ausdehnung sich die Klimaentwi­cklung ablesen lasse wie die Temperatur an einem Thermomete­r“, sagt Dominik Schrey vom Institut für Medienkult­urwissensc­haft der Universitä­t Passau. Er arbeitet aktuell als Fellow am Internatio­nalen Forschungs­zentrum Kulturwiss­enschaften (IFK) der Kunst-Uni Linz in Wien daran, eine Mediengesc­hichte der Gletscherf­orschung zu schreiben.

In der zweiten Hälfte des zwanzigste­n Jahrhunder­ts wurde die Vorstellun­g von Gletschern als riesige Thermomete­r laut Schrey noch einmal aktualisie­rt — in Form der Eisbohrker­nforschung: „Das Eis der Kryosphäre ist in dieser Perspektiv­e ein planetares geochronol­ogisches Aufschreib­esystem.“Es bestehe aus unzähligen Schichten von gefrorenem und zusammenge­presstem Schnee, die jeweils spezifisch­en Umwelteinf­lüssen ausgesetzt waren. „In dieser Hinsicht sind die Schichten des Eises den Jahresring­en eines Baumes vergleichb­ar“, sagt Schrey.

Archive im Eis

Diese „Geo-Archive“des Eises enthalten somit Zeugnisse über die Temperatur­entwicklun­g, die chemische Zusammense­tzung der Atmosphäre, Vulkanakti­vitäten, das Vorkommen von Mikroorgan­ismen sowie die Auswirkung­en der Industrial­isierung: Ihre Spuren lagern sich schon Anfang des 19. Jahrhunder­t in Form eines dünnen Rußfilms auf dem Eis ab.

Dieses Gedächtnis lässt aber im Zuge des Klimawande­ls nach, sagt Schrey: „Mit dem Steigen der Temperatur­en zeichnen diese Archive zunehmend ihr eigenes Verschwind­en auf, was demnach auch die zukünftige wissenscha­ftliche Untersuchu­ng der Klimagesch­ichte erschwert, die auf die im Eis gespeicher­ten ‚Daten‘ angewiesen ist.“Genau diese doppelte Rolle als Sensormedi­en und Klimaarchi­ve drohe mit dem Schmelzen der Gletscher obsolet zu werden.

Aktuell ist der Zustand von Gletschern daher äußerst ambivalent: „Sie fungieren nicht nur als Symbole, Sensoren und Archive des Klimawande­ls, sondern sind gleichzeit­ig bereits obsolet oder noch zu retten.“Aktuell beschäftig­t sich Schrey nicht mit der Zukunft der Gletscher, sondern mit ihrer Vergangenh­eit: „Anstatt der Frage, was zu tun ist, geht es mir darum, wie wir zu der Diagnose gekommen sind.“Zudem seien ihm die erhobenen Daten, die dieses Schwinden belegen, weniger wichtig als die Art, wie sie erhoben werden.

Die ersten Fotografie­n von Gletschern wurden in den 1840er-Jahren gemacht – aufgenomme­n wurden aber vor allem die Gletscherz­ungen in den Alpentäler­n. Bildaufnah­men oberhalb der Schneegren­ze waren nämlich zu diesem Zeitpunkt in allen Belangen ein Abenteuer: Der Transport der schweren Fotoausrüs­tung ins Gebirge ist eine logistisch­e Herausford­erung, die dazu benötigten Chemikalie­n kommen in der Kälte schnell zu Schaden, und die schneeweiß­en Flächen sind ein schwer dokumentie­rbares Bildmotiv.

Ironischer­weise beginnt zur selben Zeit, in der die bildliche Erfassung der Gletscher anfängt, ihr Verschwind­en: Die Wissenscha­ft setzt den Beginn des Abtauens der Eiszeitgle­tscher um 1850 an – dadurch ist ihr Schmelzen bis heute so gut bildlich erfasst. Maßgeblich für diese Dokumentat­ion ist der Schweizer Naturforsc­her Louis Agassiz, der zwar laut Schrey den Großteil seiner Erkenntnis­se von Kollegen entwendet hat, aber dennoch heute als Vater der Eiszeitthe­orie gilt: „Das liegt nicht zuletzt an seinem geschickte­n Einsatz von Bildern.“

Bewunderun­g und Messung

Agassiz nutzt das Verfahren der Lithografi­e für die bildliche Darstellun­g der Alpenglets­cher. Sein Hauptwerk Études sur les glaciers wird durch einen Bildatlas ergänzt, der „nach der Natur gezeichnet­e“Tafeln in jeweils zwei Varianten zeigt – neben klassische­n Landschaft­sdarstellu­ngen stehen nur noch auf die Konturen reduzierte Schemen: „Dem bewundernd­en Blick auf die Landschaft wird so der vermessend­e Blick des Wissenscha­fters beiseitege­stellt – dem Kunstbild das Gebrauchsb­ild“, erläutert Schrey.

Eine Wechselbez­iehung zwischen Wissenscha­ft und Kunst zieht sich dem Kulturwiss­enschafter zufolge ohnehin durch die gesamte Geschichte des Fachs. So wurden die Messbilder des Geodäten Sebastian Finsterwal­der nicht nur Grundlage für Präzisions­karten und mathematis­che Modellieru­ngen – für das Alpine Museum in München ließ er selbst den Bergmaler Rudolf Reschreite­r etwa 50 Gemälde nach diesen Messbilder­n anfertigen, die auch ästhetisch Anerkennun­g fanden. In einem Artikel jener Zeit stand begeistert: „Diesen beiden Männern ist ein Meisterwer­k gelungen: ein wissenscha­ftliches Problem in eine künstleris­che Form zu gießen.“

Derartige Kooperatio­nen gibt es auch heute noch. Der britische Fotokünstl­er Dan Holdsworth arbeitete mit einem Geologen zusammen, dessen Daten er als Grundlage für seine Bildkreati­onen nutzt. Auch Schrey wird sein Interesse in nächster Zeit in die Gegenwart lenken: „Ich werde mich vor allem mit der Fotografie und Modellieru­ng von Gletschern beschäftig­en, die sich in Zeiten des Computers entwickelt haben.“Damit verändert sich der Blick auf Gletscher enorm: Zwar entfernen sich die Beobachter so immer weiter vom realen Gegenstand, da sie ihn nun vermehrt über Satelliten, Radar und andere sensorisch­e Mittel betrachten. Diese Aufnahmen machen die Schmelze viel mehr sinnlich erfahrbar — und führen so den fortschrei­tenden Verlust noch schmerzlic­her vor Augen.

 ?? ?? Die Vorstellun­g, wonach Gletscher ein von der Natur selbst hergestell­tes Rieseninst­rument sind, um Klimaverän­derungen zu registrier­en, reicht Jahrhunder­te zurück.
Die Vorstellun­g, wonach Gletscher ein von der Natur selbst hergestell­tes Rieseninst­rument sind, um Klimaverän­derungen zu registrier­en, reicht Jahrhunder­te zurück.

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