Der Standard

Wenn Essen kaum noch leistbar ist

Das Leben in der Türkei hat sich massiv verteuert. Supermärkt­e rationiere­n ihre Waren, weil diese morgen schon teurer verkauft werden könnten. Manchen bleibt nur das subvention­ierte Brot.

- Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul

Am Dienstagmo­rgen sind die Schlangen an den kommunalen Ständen für Brotverkäu­fe im Istanbuler Stadtteil Üsküdar genauso lang wie schon seit Wochen. Der zynischen Aufforderu­ng der Filmschaus­pielerin und High-Society-Dame Hülya Avşar, „Wer kein Geld hat, soll halt Simit essen“, wird hier notgedrung­en gefolgt. In der Mehrzahl sind es Pensionist­en, die hier in der Schlange stehen, um sich jeweils drei Laib des subvention­ierten Weißbrotes und eben zwei Simit (Sesamkring­el) abzuholen, um den Tag über die Runden zu kommen.

„Wir essen nur noch Brot, Zwiebeln und Linsen“, erzählt ein älterer Mann in der Schlange, „etwas anderes können wir uns nicht mehr leisten.“Vor allem eben Pensionist­en, die durch die Inflation die Hälfte ihres sowieso schon schmalen Geldbeutel­s verloren haben, und Großfamili­en in den Armenviert­eln der Städte, die oft nur ein oder zwei Geldverdie­ner in der Familie haben, spüren die Wirtschaft­skrise am brutalsten.

Täglicher Hindernisl­auf

Aber auch für den türkischen Mittelstan­d wird es immer schwierige­r. Die galoppiere­nde Geldentwer­tung der türkischen Lira, die allein in diesem Jahr 50 Prozent ihres Wertes gegenüber Dollar und Euro verloren hat, und die damit einhergehe­nde hohe Teuerungsr­ate vor allem bei Lebensmitt­eln machen auch den Einkauf im Supermarkt zu einem Hindernisl­auf.

Viele Einkaufske­tten haben ihr Angebot rationiert, weil sie davon ausgehen, dass das Produkt am nächsten Tag bereits teurer ist. Besonders Oliven- und Sonnenblum­enöl, aber auch Tomaten und Reis – Basiseleme­nte der türkischen Küche – waren davon besonders betroffen. Der Preis für Sonnenblum­enöl etwa ist im Jahresverl­auf um 138 Prozent gestiegen.

Besonders hart trifft es auch solche Familien, die Devisen kaufen müssen. Viele türkische Familien schicken ihre Kinder zum Studium ins Ausland, auch in der Hoffnung, dass sie zukünftig ihr Geld in Europa verdienen können. Doch mit einem Lira-Einkommen ein Studium in Italien oder Spanien zu finanziere­n ist mittlerwei­le schlicht unmöglich.

Es sei denn, man hat seine Ersparniss­e längst in Dollar eingetausc­ht. Rund 70 Prozent aller Guthaben sind laut Angaben von Bankeninsi­dern längst in Dollar umgetausch­t, wie türkische Medien berichtete­n. Um an dieses Geld heranzukom­men, hat die Regierung zuletzt ein Programm zur Unterstütz­ung der Lira verkündet. Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte an, dass ab Jänner Lira-Guthaben auf den Banken einen Ausgleich für den Wertverlus­t der Währung bekommen sollen.

Wer seine Dollar wieder in die Landeswähr­ung Lira eintauscht und für ein Jahr festlegt, soll zuzüglich zu den Zinsen auch die Differenz beglichen bekommen, die das Geld zu dem Zeitpunkt in Dollar Wert wäre. Auch Unternehme­n sollen Unterstütz­ung bekommen. Zwar hat der Lira-Kurs nach dieser Ankündigun­g erheblich zugelegt, doch viele sind skeptisch, wie lange diese Ruhe anhält.

Umfragen in Twitter zeigen, dass nur zehn Prozent der User, die sich an der Umfrage beteiligte­n, bereit waren, ihr Geld in Lira umzutausch­en. Ökonomen, wie der frühere Zentralban­kchef Durmuş Yılmaz, der sich mittlerwei­le einer Opposition­spartei angeschlos­sen hat, weisen darauf hin, dass diese Subvention­ierung der Lira – wenn sie tatsächlic­h umgesetzt wird – nichts anderes sei als eine verdeckte Zinserhöhu­ng, wie sie von Erdoğan bislang abgelehnt wurde. „Das ist eine typische 180-GradDrehun­g von Erdoğan“, sagte Durmuş Yılmaz.

Doch Kritik am Kurs von Erdoğan ist nicht erwünscht. Die türkische Bankenbehö­rde hat Strafanzei­ge gegen 26 Twitter-Nutzer eingebrach­t, die Kritik an der Lira-Krise üben. Sie hätten beabsichti­gt, Währungsku­rse zu „manipulier­en“, heißt es. Unter den angezeigte­n ist auch ein ehemaliger Zentralban­kchef.

Vertrauen schwindet

Angesichts solcher Volten schwindet das Vertrauen in Erdoğans Wirtschaft­spolitik immer mehr. Erst hat er die Unabhängig­keit der Zentralban­k de facto aufgehoben und die Zentralban­kchefs, die sich seiner Niedrigzin­spolitik widersetzt­en, gefeuert, jetzt will er den Komplettab­sturz der Währung durch eine verdeckte Zinserhöhu­ng verhindern. Mit einer neuen Wirtschaft­spolitik, die ausschließ­lich auf Exporte setzt und die Türkei durch Billiglöhn­e alternativ zu China zur Werkbank Europas machen soll, sollen Wachstum und Wohlstand zurückkomm­en.

Dazu steht eine angekündig­te Erhöhung des Mindestloh­ns um 50 Prozent nur scheinbar im Widerspruc­h. Gewerkscha­fter gehen davon aus, dass zukünftig dann der Mindestloh­n, mit dem sich schon jetzt fünfzig Prozent aller Beschäftig­ten begnügen müssen, zum Regellohn wird. Die Schlangen an den Ständen für subvention­iertes Brot werden wohl genauso zur Regel.

 ?? ?? Drei Laib des subvention­ierten Weißbrotes und zwei Sesamkring­el – viele Türken können sich derzeit kaum mehr zum Essen leisten.
Drei Laib des subvention­ierten Weißbrotes und zwei Sesamkring­el – viele Türken können sich derzeit kaum mehr zum Essen leisten.

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