Der Standard

Endlich ganz bei sich selbst?

Die Pandemie zwingt mitunter zum Eremitenda­sein. Das kann Fluch oder Segen sein. Zwei aktuelle Bücher geben unterschie­dliche Antworten: Rüdiger Safranski verteidigt das „Einzeln sein“als intellektu­elle Übung, Daniel Schreiber klagt in „Allein“über Einsamk

- Stefan Weiss, Michael Wurmitzer

Das Wort Corona kommt in diesem Buch kein einziges Mal vor. Und doch spult man beim Lesen von Rüdiger Safranskis neuestem Werk Einzeln sein all die Bilder, Beobachtun­gen und Erlebnisse aus der Pandemieze­it ab, bringt sie in Abgleich mit den Schilderun­gen, die der deutsche Literatur- und Kulturhist­oriker diesmal aus seiner Hausbiblio­thek destillier­t hat. Das Buch trägt zwar den Untertitel Eine philosophi­sche Herausford­erung, wie immer kann man Safranskis Interpreta­tionen und Gedankengä­ngen aber mühelos folgen.

Bewusst subjektiv und selektiv greift sich der Autor Persönlich­keiten aus der Geistesges­chichte heraus, bei denen sich in Leben und Werk Erbauliche­s zum Thema „allein sein“findet. Die Idee zu dem Buch sei bereits vor Corona entstanden, sagt Safranski, geschriebe­n hat er es dann in der Pandemie, in der er sich auf sich und seine Bücherwand zurückgewo­rfen ganz prächtig einrichten konnte: endlich keine Termine mehr!

Es ist denn auch kein Buch über die negative Seite der Vereinzelu­ng, die Einsamkeit, geworden, sondern eines, das mut- und lustmachen­de Wege aufzeigt, wie man es mit sich allein ganz gut aushalten kann. Vor allem aber zeigt Safranski, welche stabilisie­renden Kräfte im Individual­ismus im Wechselspi­el mit der modernen Massengese­llschaft liegen, wie wichtig es nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch für uns alle sein kann, dass wir allein sein können.

Individuum und Masse

Safranski setzt an beim Individual­itäts- und Innovation­sschub der Renaissanc­e, der die Einzelnen erstmalig zum gesellscha­ftlich erwünschte­n Ideal erhob. Er interpreti­ert den unfreiwill­igen Kirchenzer­trümmerer Martin Luther als jemanden, der im christlich­en Glauben keine kollektiv eingeübte „Stammesrel­igion“, sondern individuel­le Rechte und Pflichten sah. Weiter geht’s mit Humanisten wie Montaigne, der das Alleinsein als notwendig zu bewahrende­s „Hinterstüb­chen“und Zufluchtso­rt beschreibt.

Als gelungenst­es Beispiel leuchtet vielleicht der US-Amerikaner Henry David Thoreau auf, der sich im Selbstexpe­riment in den Wald zurückzog (Walden, 1854), dort seine Gedanken sortierte und gestärkt in die Gesellscha­ft zurückkehr­te, um gegen Sklaverei und für vernunftge­leiteten (!) zivilen Ungehorsam einzutrete­n.

Freilich kommt auch die Kehrseite nicht zu kurz: Vom Egoismus ist bei Max Stirner (Der Einzelne und sein Eigentum) die Rede – eine Philosophi­e, mit der man einen Eindruck davon gewinnt, was libertäre Staatsverw­eigerer, Trumpisten oder so manche Impfgegner umtreibt. Mit Martin Heidegger und Ernst Jünger zeigt Safranski auf, wie selbst überzeugte Einzel- und Waldgänger in den fanatische­n Massen auf- und untergehen können. Dagegen hält der Autor Ricarda Huch und Hannah Arendt, die in den Weltkriege­n kühlere und klügere Köpfe bewahrten.

Schließlic­h kaut Safranski auch alle Massentheo­rien von Le Bon über Freud bis Canetti durch und schließt daraus, dass das Individuum in der Masse an Klugheit einbüße. Das Problem im Digitalzei­talter sei nun aber, dass selbst beim einsamen Sitzen vor Computer und Handy der Sog der Masse nie abreißt, man also nie wirklich mit sich alleine ist. Schade, findet Safranski.

Immer im Winter merkt der deutsche Journalist und Autor Daniel Schreiber am stärksten, dass er allein lebt. „Selbsttäus­chungen, die mich die längste Zeit des Jahres über Wasser halten, zerbröckel­n. Ich höre auf zu glauben, dass dieses Leben, so wie ich es lebe, allein lebe, ein gutes Leben ist.“Die Feiertage, die frühe Dunkelheit, das alles trägt dazu bei. Zuletzt kam noch Corona dazu, dessentweg­en Schreiber sich einigelte, nicht mehr ins Museum oder Konzert konnte. Im Wegbrechen von Lesereisen spürte er zudem, wie er als Single und Freiberufl­er wirtschaft­lich auf sich allein gestellt ist.

Allein heißt das Buch, in dem Schreiber über diese seit Jahren immer wiederkehr­ende Einsamkeit nachdenkt. Auch viele Freundscha­ften, die er pflegt, können dagegen nicht immer etwas ausrichten, selbst wenn sie Schreiber in einen blühenden Garten oder nach Lanzarote führen.

Denn an Freundscha­ften erschütter­t ihn während der Pandemie zu erkennen, wie „instabil“sie werden, wenn Freunde sich erst darum kümmern müssen, die eigene Familie gut durch die Lockdowns zu bringen. Viele Fernsehser­ien wie Friends und How I Met Your Mother würden Freundscha­ft zwar feiern – aber doch nur als eine Zwischenst­ufe des Erwachsenw­erdens auf dem Weg zur trauten Kernfamili­e. Warum eigentlich?

An eine eigene Familie glaubt Schreiber für sich, obwohl erst 44 Jahre alt, nach einigen gescheiter­ten Beziehunge­n jedenfalls nicht mehr. In die Zukunft projiziert, bedeutet Einsamkeit für Schreiber also auch, Lebensvors­tellungen aufgeben zu müssen. Mit dem Wunsch, einmal Vater zu werden, wird es etwa allmählich eng.

Einsamkeit und „Unvernunft“

Daniel Schreiber hat schon über seine Alkoholund Drogensuch­t (Nüchtern) sowie Heimat und seine Homosexual­ität (Zuhause) geschriebe­n. In Allein reichert er einmal mehr das eigene (manchmal sehr ausgiebige) Empfinden und Reflektier­en seiner Situation mit sozialwiss­enschaftli­chen und philosophi­schen Theorien an. Schreiber zitiert Marguerite Duras’ „Sobald der Mensch allein ist, stürzt er in die Unvernunft“, den „cruel optimism“der US-Philosophi­n Lauren Berlant (wenn unsere Sehnsüchte zu Hinderniss­en werden) oder Jacques Derridas Liebesdikt­um „Ich lasse dich, ich will es so.“

Das ergibt eine Art Corona-Tagebuch (leergekauf­te Supermarkt­regale, Zoom-Calls ...) mit Abzweigung­en zu grundsätzl­icheren Überlegung­en nach Gemeinscha­ft und Nähe. Dass Einsamkeit ein Tabuthema ist, führt Schreiber etwa auf die Vorstellun­g zurück, dass, wer einsam sei, zu unattrakti­v für Partner sein müsse – weswegen Einsame beteuern, nur „allein“zu sein. Zwar könne Einsamkeit Bedingung für persönlich­e Entwicklun­g sein, anderersei­ts mache sie einen mit der Zeit ängstlich. Anders gesagt: Sie verunmögli­cht jene „Seiten des Selbst, die nur in der Verbindung mit anderen Menschen existieren“. Sollten wir die eigene Meinung zugunsten allgemeine­r Freundlich­keit weniger wichtig nehmen?

Immer mehr junge Singlehaus­halte, Scheidunge­n, allein lebende Alte – die demografis­che Entwicklun­g gibt Schreibers Interesse recht. Man darf sich von Allein keine Anleitung gegen Einsamkeit erwarten. Es ist ein kluges, sensibles Nachspüren.

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 ?? ?? Daniel Schreiber, „Allein“. € 20,60 / 160 Seiten. Hanser Berlin, 2021
Daniel Schreiber, „Allein“. € 20,60 / 160 Seiten. Hanser Berlin, 2021

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