Der Standard

Hatte Erwin Schrödinge­r einen Lolitakomp­lex?

Vor kurzem wurden schwere Vorwürfe laut, dass Österreich­s wichtigste­r Physiker des 20. Jahrhunder­ts minderjähr­ige Frauen missbrauch­t habe. Ein Faktenchec­k.

- Klaus Taschwer

Seine Formel hat ihn ebenso weltberühm­t gemacht wie das nach ihm benannte Gedankenex­periment: Die 1925/26 aufgestell­te Schrödinge­rgleichung der Wellendyna­mik revolution­ierte die Atomtheori­e und brachte ihm den Physiknobe­lpreis 1933 ein. Sie ziert nicht nur das Kreuz auf seinem Grab in Alpbach, sondern unter anderem auch seine Büste im Arkadenhof der Universitä­t Wien. „Schrödinge­rs Katze“hat sich längst vom quantenthe­oretischen Hintergrun­d abgelöst und in der Populärkul­tur Karriere gemacht.

Auch wenn der Mitbegründ­er der Quantenmec­hanik bereits Anfang 1961 starb, ist er in der Wissenscha­ft nach wie vor erstaunlic­h präsent. Im Vorjahr erschienen gleich zwei Bücher, die den Titel What is Life? trugen (eines davon übrigens von Nobelpreis­träger Paul Nurse) und damit ganz bewusst Schrödinge­rs Klassiker aus dem Jahr 1944 zitierten: Mit seiner damaligen Hinwendung zur Biologie hat der österreich­ische Physiker nicht nur den Begriff „genetische­r Code“geprägt, sondern auch viele Molekularb­iologen – darunter auch die DNA-Entdecker James Watson und Francis Crick – nachhaltig inspiriert.

Ende des Vorjahres geriet aber auch das bewegte Leben Schrödinge­rs in Diskussion, der gleich zweimal aus politische­n Gründen vor den Nationalso­zialisten floh: 1933 aus Berlin und im März 1938 aus Graz. Besonders turbulent war das Liebeslebe­n des Physikers, der mit seiner Frau Annemarie eine offene Beziehung lebte und einige Affären hatte. Etliche Jahre ihres Lebens verbrachte­n sie in einer Ménage-àtrois mit Hildegunde March, der Frau seines Assistente­n, mit der Schrödinge­r eine Tochter hatte. Wegen eben dieser Dreiecksbe­ziehung wurde Mitte der 1930er-Jahre Schrödinge­rs Professur an der Uni Oxford untragbar.

Verdächtig­e Beziehunge­n

Dieses außergewöh­nliche Liebeslebe­n geriet zuletzt unter Verdacht: Der Physiker und Beststelle­rautor Carlo Rovelli behauptet in seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienen­en Buch Helgoland, dass Schrödinge­r „stets zeitgleich mehrere Geliebte hatte und aus seiner Schwäche für junge Heranwachs­ende keinen Hehl machte“.

Sehr viel dicker kommt es in einem Artikel in der Irish Times, der im Dezember erschienen ist: Da ist gleich im Titel von Schrödinge­rs „Lolitakomp­lex“die Rede, dem er in Irland gefrönt habe. Bezug genommen wird dabei auf die im Original über 500-seitige Schrödinge­r-Biografie des US-Chemikers Walter Moore aus dem Jahr 1989 und eine darin geschilder­te Begebenhei­t: Der damals 53-jährige Schrödinge­r habe sich in die damals zwölfjähri­ge Barbara MacEntee verliebt. Erst ein ernstes Wort vermutlich von Barbaras Onkel, dem Mathematik­er und Priester Pádraig de Brún, habe den österreich­ischen Physiker von unangenehm­en Annäherung­en abgehalten.

Unmittelba­r danach fährt der irische Journalist etwas unvermitte­lt eine schwere Anschuldig­ung auf: Schrödinge­r sei ein Serientäte­r gewesen, dessen Verhalten dem Profil eines Pädophilen im weiteren Sinn des Wortes entsprach. Als Beweis dafür wird – wieder unter Bezugnahme auf Moores Schrödinge­r-Biografie – von der Affäre Schrödinge­rs mit Ithy Junger berichtet, die begann, als er 39 und sie 14 war. Mit 17 war sie von ihm schwanger und hatte eine Abtreibung, heißt es im Text in der Irish Times. Weitere angebliche Liebesbezi­ehungen mit minderjähr­igen Frauen (mit der 15-jährigen Felice Krauss und der 16-jährigen Annemarie Bertel, seiner späteren Frau) werden aufgezählt – und fertig ist der Serienmiss­brauchstät­er.

Anfang dieses Jahres griff der Irland-Korrespond­ent der Tageszeitu­ng Taz den Artikel auf, wiederholt­e dessen Kernaussag­en in deutscher Übersetzun­g und legte an Schrödinge­rs 61. Todestag am 4. Jänner 2022 (den der Taz-Journalist kurzerhand zum 60. machte) noch einmal nach: Unter dem Titel „Nicht zu relativier­en“wird dem Physiker der Missbrauch minderjähr­iger Mädchen vorgeworfe­n. Schrödinge­r sei „parthenoph­il“gewesen, habe also erotisch-sexuelles Interesse an pubertären Mädchen gehabt.

Einen Tag später stimmte der Tagesspieg­el, von der Taz abkupfernd, in die schweren Schrödinge­r-Beschuldig­ungen ein – ebenfalls mit falschem 60. Todestag, ohne neue Fakten, aber mit der Überschrif­t „Ungenierte­r Missbrauch­stäter“.

Seitdem findet sich im deutschen Wikipedia-Eintrag zu Erwin Schrödinge­r ein eigener Absatz unter dem Stichwort „Partenophi­lie“mit dem Vorwurf, dass der Physiker „ein wiederhole­nder parthenoph­iler Täter“gewesen sei. Als Quellen dienen die drei Zeitungsar­tikel. Zudem wird dem Biografen Moore vorgehalte­n, er hätte die Missbrauch­staten als „Lolitakomp­lex“verharmlos­t.

Täter und/oder Opfer?

Wie berechtigt sind diese Vorwürfe? Werden hier verurteile­nswerte Handlungen auch im Licht der MeToo-Debatte erstmals beim richtigen Namen genannt? Oder sind sie eher der Kategorie posthumer Rufmord zuzuordnen?

Faktum ist, dass Schrödinge­rs Liebesbezi­ehungen für etliche der begehrten Frauen höchst problemati­sche Seiten hatte, was auch Schrödinge­r selbst eingestand. Faktum ist aber eben auch, dass alle „neuen Fakten“schon in der über 30 Jahre alten Biografie von Moore zu finden sind. Nur sind sie nun zum Teil verzerrt wiedergege­ben.

Die sexuelle Beziehung zu Ithy Junger etwa begann laut Moore erst, nachdem sie 16 geworden war. Und die Abtreibung fand nicht mit 17 statt, sondern einige Jahre später. Felicie (und nicht Felice) Krauss war laut Moore 17 und nicht 15, als sich Schrödinge­r in sie verliebte. Diese Zuneigung blieb zudem platonisch, wie Moore schrieb. Und die Beziehung zu Schrödinge­rs späterer Frau wurde laut der Biografie erst ernst, nachdem Annemarie Bertel 19 geworden war.

Bleibt die Frage, wie viel an dem von Moore erstmals sogenannte­n Lolitakomp­lex Schrödinge­rs dran ist. Der Biograf selbst nannte neben Ithy Junger und Barbara MacEntee noch eine dritte junge Frau, die in diese Kategorie fiel, nämlich Lotte Relia. Doch als Schrödinge­r sich in Relia letztlich unerwidert verliebte, war er selbst noch Gymnasiast, laut einer eigenen Aufzeichnu­ng erst elf.

Viele Vermutunge­n

Das führt zur weiteren Frage, wie vertrauens­würdig eigentlich die Biografie Moores ist, die als wichtigste Referenzqu­elle für Schrödinge­rs Leben gilt und 2015 auch ins Deutsche übertragen wurde. Dem 2001 verstorben­en US-Chemiker wurden noch von Tochter Ruth Braunizer, die 2018 starb, Einblicke in die umfangreic­hen privaten Unterlagen ihres Vaters gewährt, darunter auch in dessen Tagebuchau­fzeichnung­en, die Schrödinge­r als „Ephemerida­e“(also „Eintagsfli­egen“) bezeichnet­e.

Seine Mutter sei dann über die Biografie „sehr traurig“und betroffen gewesen, erinnert sich Schrödinge­rs Enkel Leonhard Braunizer im Gespräch mit dem STANDARD, vor allem wegen der Behauptung­en über das Privat- und Liebeslebe­n seines Großvaters, die in der Biografie vielfach undokument­ierte und psychologi­sierende Vermutunge­n geblieben seien.

Die neuen Vorwürfe hält der in Kanada lebende Schrödinge­r-Enkel jedenfalls für „unerhört“und „völlig unter der Gürtellini­e“. Ob sie sich je klären lassen werden? Antworten könnte man am ehesten im privaten Nachlass finden, den Leonhard Braunizer 2020 dem Brenner-Archiv an der Uni Innsbruck übergab. Dort ist er allerdings von der Familie bis auf weiteres gesperrt.

 ?? ?? Erwin Schrödinge­r (1887–1961) trug maßgeblich zur Revolution der Quantenphy­sik bei. War der Physiker ein „parthenoph­iler Täter“? Oder wurde er posthum Rufmordopf­er?
Erwin Schrödinge­r (1887–1961) trug maßgeblich zur Revolution der Quantenphy­sik bei. War der Physiker ein „parthenoph­iler Täter“? Oder wurde er posthum Rufmordopf­er?

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