Der Standard

Wie Europas Vordenker tickten

Europa war eine utopische Idee. Wie jüdische Persönlich­keiten an ihr mitgeschri­eben haben, das kann man in der Schau „Die letzten Europäer“im Wiener Volkskunde­museum erkunden.

- Stefan Niederwies­er Bis 18. April. Online zu besuchen unter lasteurope­ans.eu

Das Attentat erschütter­t die junge deutsche Republik: Vor fast genau hundert Jahren wird Außenminis­ter Walter Rathenau in einem offenen Cabriolet überholt, eine Handgranat­e fliegt durch die Luft und explodiert, fünf Schüsse aus einer Maschinenp­istole treffen ihn tödlich. Die antisemiti­sche Terrorgrup­pe Organisati­on Consul will mit der Ermordung des jüdischen Politikers 1922 die Weimarer Republik destabilis­ieren. Walther Rathenau gilt heute deshalb als erstes Opfer des Dritten Reichs, das die Attentäter später ehrte, sowie auch als Vordenker der europäisch­en Einigung unter wirtschaft­lichen Vorzeichen. Denn er träumte bereits Jahrzehnte vor der europäisch­en Einigung von einer Zollunion im Zentrum Europas.

Gleichzeit­ig forderte er während des Ersten Weltkriegs erfolgreic­h den Einsatz belgischer Zwangsarbe­iter. Die Figur Walther Rathenau ist ambivalent – so wie Europa.

Nicht zufällig ist ihm die erste Station in der aktuellen Ausstellun­g Die letzten Europäer im Wiener Volkskunde­museum gewidmet. Zur Begrüßung der Besucher zählen rote Ziffern bedrohlich einen Countdown

herunter. Europa stecke durch Nationalis­mus und Fremdenfei­ndlichkeit in der Krise, heißt es programmat­isch. 14 thematisch­en Stationen zeigen gleicherma­ßen Sternwie auch finstere Stunden der europäisch­en Idee. Sie musste nach ihrer größtmögli­chen Katastroph­e, nach Auschwitz, erst einmal neu gedacht werden.

Gestalter des Kontinents

Der Fokus der Ausstellun­g – sie war bereits im Jüdischen Museum im vorarlberg­ischen Hohenems zu sehen – liegt dabei auf einzelnen Personen jüdischen Glaubens, und wie sie den Kontinent mitgestalt­et haben. Unter ihnen findet sich eine ungarische Suffragett­e genauso wie ein österreich­ischer Buchhändle­r, ein deutscher Großindust­rieller oder die französisc­he Präsidenti­n des ersten gewählten Europäisch­en Parlaments. Der Jurist Raphael Lemkin seinerseit­s hatte in den 1920er-Jahren in Lemberg studiert und sich intensiv mit türkischen Gräueln in Armenien sowie später auch mit den Verbrechen der Nationalso­zialisten befasst.

Er war zu dem Schluss gekommen, dass nur das Wort „Genozid“ die systematis­che Vernichtun­g einer Bevölkerun­gsgruppe angemessen beschreibe­n könne. „Gräuel“reiche nicht aus. Auf sein Betreiben hin erschien ein halbes Jahr vor Ende des Zweiten Weltkriegs ein Leitartike­l in der Washington Post, der angesichts der systematis­chen Vergasung hunderttau­sender Juden in Auschwitz neuerdings von einem „Genozid“sprach. 1948 wurde der Tatbestand in der Formulieru­ng Lemkins in das Völkerstra­frecht aufgenomme­n.

Mit schnellen Wegen, weniger Grenzen, einer gemeinsame­n Sprache oder dem rechtliche­n Schutz von Flüchtling­en sowie nationaler Minderheit­en sollte der Kontinent zusammenwa­chsen. Dazu kam sein ökonomisch­es Fundament.

Ko-Kuratorin Michaela Feurstein-Prasser ist heute überzeugt, „dass die Europäisch­e Union letztlich nicht wirklich zerbrechen wird, weil zu viel Geld und zu viele wirtschaft­liche Interessen im Spiel sind“. Ihr geht es mit der Schau darum, den Ist-Zustand Europas zu verstehen: Wer sind diese Europäer? Wie ticken sie? Wie lässt sich Europa weiterdenk­en? Was hält die Union trotz ihrer Krise am Leben?

Dass der Ist-Zustand schon einmal utopischer war, daran lässt die Ausstellun­g keinen Zweifel. Der Trans-Europa-Express ist ins Stocken geraten. So ist das „christlich­jüdische Abendland“heute zu einem Kampfbegri­ff geworden, um sich vom Islam und den rund 16 Millionen Muslimen in der EU abzugrenze­n. Gegen einzelne Staaten laufen Vertragsve­rletzungsv­erfahren. Dazu kommen Fake News, Frontex und Neo-Faschismus.

Inhaltlich ist die Ausstellun­g aufschluss­reich gestaltet, ihr Design und ihre symbolisch­en Gesten geben allerdings mitunter Rätsel auf. In einem blitzblaue­n Raum stehen Besucher vor Textblöcke­n und Videos, während die bunten BarcodeEur­opaflaggen von Rem Koolhaas als Gestaltung­selement unkommenti­ert bleiben. Und der Countdown die Opferzahle­n europäisch­er Gewaltgesc­hichte im 20. Jahrhunder­t – es sollen mindestens 125 Millionen Tote sein – erklärt sich ebenfalls nicht recht. Es ist verschmerz­bar. Denn praktische­rweise lässt sich die Ausstellun­g online gleich gut besuchen.

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Ein Countdown in der Schau zählt die Toten europäisch­er Gewaltgesc­hichte im 20. Jahrhunder­t herunter. Es sollen 125 Millionen gewesen sein.

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