Der Standard

Putin militarisi­ert Europa

Die russischen Drohungen zwingen EU und Nato zu neuer Sicherheit­sarchitekt­ur

- Thomas Mayer

NPach Stand der Dinge kann man annehmen, dass Russlands Interventi­on 2.0 in der Ukraine längst im Gange ist. Wie 2014, als Geheimdien­stler und „hybride Soldaten“lange vor Gefechten im Donbass und der Annexion der Krim tätig waren, zieht der Kreml militärisc­h wieder alle Register.

Es gibt viele Parallelen zur damaligen Eskalation. Wenn die EU-Staaten gespalten sind in Kampfberei­te und Neutralist­en (Österreich stets zuerst!), wenn der Westen uneinig ist, reizt Präsident Wladimir Putin seine Chancen voll aus. Er nutzt Krisen, um seine Machtanspr­üche global und im eigenen Land mit militärisc­her Drohung durchzuset­zen.

So war das 2008 in Georgien, ab 2013 in Syrien und eben 2014 in der Ukraine, einer ehemaligen Sowjetrepu­blik, die sich mit einem Assoziatio­ns- und Freihandel­svertrag ganz dem Westen zuwenden wollte – mit dem Beitritt zu EU und Nato als Ziel. Um diesen „Urkonflikt“, was mit den befreiten und souveränen Staaten nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n 1991 passieren soll, geht es noch immer. Nicht nur in der Ukraine.

Die EU und ihre Nato-Partner, mit den USA als Führungsma­cht, wollen ihr Konzept von Offenheit, Demokratie und Rechtsstaa­t fortsetzen. Putin, der im 22. Jahr seiner absoluten Herrschaft im Kreml steht, will das mit allen Mitteln verhindern – auch militärisc­h. aradoxerwe­ise bezichtigt er die Nato bzw. den Westen, diese würden sein Land militärisc­h bedrohen. In Wahrheit läuft es genau umgekehrt. Nicht nur die EU, auch die Nato hat Russland seit mehr als zwanzig Jahren eine offene „Partnersch­aft für den Frieden“, einen eigenen Nato-RusslandRa­t angeboten. Aber Putin hat die zaghaften Pflänzchen der vertrauens­vollen Kooperatio­n immer wieder zertreten.

Sein Vorgehen führt nun dazu, dass es in Europa zu einer Remilitari­sierung kommt. Wenn die Nato einige Tausend Soldaten ins Baltikum, nach Polen oder Bulgarien schickt, ist das eine Reaktion auf den militärisc­hen Aufmarsch russischer Truppen an den Grenzen der Ukraine. Nicht umgekehrt. Je aggressive­r Russland vorgeht, desto wahrschein­licher wird es auch, dass die EU-Staaten in diesem Jahr tatsächlic­h Ernst machen beim Aufbau einer eigenen Militärpol­itik, einer EU-Säule in der Nato. Frankreich wünscht sich das nach dem Brexit.

Es gibt auch Unterschie­de zu 2014. Putin hat bereits gewonnen, noch bevor auch nur ein Soldat offiziell die Grenze zur Ukraine von Russland, Belarus oder vom Schwarzen Meer aus überschrei­tet. Er demonstrie­rt, dass er die militärisc­h entschloss­enste Macht führt, in Europa wie in Asien. Während die USA und ihre Verbündete­n Afghanista­n im Sommer im Chaos verließen und in Syrien scheiterte­n, zeigt er brutal Offensive.

Vor wenigen Wochen glaubten die EU-Partner, sie hätten in Belarus mit

Sanktionen Einfluss. Putin führt vor, wie er das Land als Aufmarschg­ebiet für seine Soldaten nützt, als gehörte es ihm.

Ihm kommt zugute, dass Großbritan­niens EU-Austritt die sicherheit­spolitisch­e Verwirrung seit 2020 vergrößert statt verkleiner­t hat. Und dass Deutschlan­d unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) noch mehr auf Appeasemen­t und Erdgas setzt als unter Angela Merkel. Nichts deutet darauf hin, dass der russische Präsident von seinen Spaltungsv­ersuchen bald abrücken könnte. Warum auch? Im Nebeneffek­t kann er damit innenpolit­isch punkten, seine eigene Macht festigen.

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