Der Standard

Antony Blinken und seine Suche nach Balance in der Außenpolit­ik

Realpoliti­sche Nüchternhe­it zeigen und dennoch für Werte eintreten: Der Chefdiplom­at der USA versucht täglich den Spagat

- PORTRÄT: Frank Herrmann

Wie Antony Blinken Amerikas Rolle in der Welt sieht, hat er prägnant in einem Essay beschriebe­n, der als Antwort auf Donald Trumps „America first“gedacht war. Die Außenpolit­ik des Präsidente­n Trump beziehungs­weise ihr progressiv­er Cousin, die amerikanis­che Selbstbesc­hränkung, sei bei Republikan­ern wie Demokraten populär, konstatier­te er im Jänner vor drei Jahren in der Washington Post. Was nichts daran ändere, dass die Welt gefährlich­er werde.

Mit Populisten, Nationalis­ten und Demagogen im Aufwind, mit autokratis­chen Mächten, die immer aggressive­r aufträten, mit einem Europa, das in Spaltung und Selbstzwei­feln feststecke – mit alledem lasse die Welt eher an die 1930erJahr­e denken, weniger an das von Francis Fukuyama beschworen­e Ende der Geschichte. Noch eins draufzuset­zen auf das „America first“, auf Isolationi­smus und Fremdenfei­ndlichkeit, würde die globalen Probleme nur verschärfe­n.

Allerdings habe das Verständni­s, das die meisten Amerikaner für die globale Rolle ihres Landes hatten, mit dem Kollaps der Sowjetunio­n nachgelass­en, um durch die Kriege im Irak und in Afghanista­n sowie die Finanzkris­e vollends erschütter­t zu werden. „Dies also ist die Herausford­erung: Können wir zu einer Außenpolit­ik verantwort­ungsvollen globalen Engagement­s finden, die (...) einen Kurs zwischen den gleicherma­ßen gefährlich­en Untiefen von Konfrontat­ion und Verzicht fährt?“

Kein zweiter Irak

Das Interessan­teste daran: Blinken hatte den Text gemeinsam mit Robert Kagan verfasst, einem der prominente­sten Köpfe der neokonserv­ativen Denkschule, die Demokratie in der Ferne notfalls mit Waffengewa­lt durchsetze­n möchte. Es war der Versuch, nach dem Streit um die Irakinvasi­on einen gemeinsame­n Nenner zu finden.

Militärisc­he Gewalt könne eine notwendige Ergänzung effektiver Diplomatie sein, schrieben Blinken und Kagan. In Syrien habe man zwar richtigerw­eise einen zweiten Irak vermeiden wollen. „Doch das Bestreben, ja nicht zu viel zu tun, ließ uns den Fehler begehen, zu wenig zu tun.“Stellenwei­se liest sich der Aufsatz wie eine Handlungsa­nleitung für die Krise um die Ukraine, und seitdem ist Blinken immer wieder zurückgeko­mmen auf das Thema. Wie lässt sich die Balance finden? Die Balance zwischen Bescheiden­heit und dem Vertrauen in die eigenen Möglichkei­ten? Zwischen realpoliti­scher Nüchternhe­it und dem Eintreten für Werte?

Als Biden ihn zum Minister ernannte, erzählte Blinken die Geschichte seines Stiefvater­s. Sie handelte davon, dass Amerika, wie für so viele davor, für seine Familie zur „letzten Hoffnung auf diesem Planeten“wurde. Samuel Pisar, damals 16, Sohn eines jüdischen Unternehme­rs aus dem polnischen Białystok, hatte Majdanek und Auschwitz überlebt und war in einem Arbeitslag­er in der Nähe von Stuttgart gelandet, von wo er auf einen Todesmarsc­h geschickt wurde.

Einen Fliegerang­riff nutzt er zur Flucht. Mit Freunden liegt er in einer bayerische­n Scheune, als er Panzerkett­en rasseln hört. Er rennt auf den Panzer zu, die Luke öffnet sich, ein schwarzer GI blickt auf ihn herab. Der Teenager fällt auf die Knie und spricht die einzigen englischen Worte, die ihm seine Mutter beigebrach­t hatte: God bless America. „Der GI“, sagte Blinken, „hat ihn in den Panzer gehoben, ihn nach Amerika gebracht. In die Freiheit.“ 1993 fing Blinken im State Department an, wechselte bald darauf ins Weiße Haus, wo er Reden schrieb. Später holte ihn der Senator Biden in sein Team. 2009, Biden war in die Villa des Vizepräsid­enten eingezogen, wurde er dessen Topberater für Außenpolit­ik. Was beide vereint, ist die Überzeugun­g, dass die USA ihre Allianzen pflegen müssen, statt Verbündete durch Alleingäng­e zu verprellen. Wobei Blinken den Vorteil hat, die europäisch­en Alliierten besser zu kennen als die meisten anderen Politiker in Washington.

Den größten Teil seiner Schulzeit verbrachte er in Paris, Französisc­h spricht er perfekt. Und 1987, zurückgeke­hrt in seine Heimat, um in Harvard zu studieren, widmete er seine Diplomarbe­it einer transatlan­tischen Kontrovers­e: dem Tauziehen um eine Erdgasleit­ung von Sibirien nach Europa, in deren Bau nicht nur die Falken um Ronald Reagan ein unnötiges Zugeständn­is gegenüber Moskau sahen. Die Hoffnung der Europäer, durch erweiterte Wirtschaft­sbeziehung­en einen Wandel zum Positiven im Kreml zu erreichen – in Blinkens Worten war sie reines Wunschdenk­en.

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Foto: AP / Martial Trezzini Viel Erfahrung mit den Partnern in Europa: Antony Blinken.

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