Der Standard

„Uns wurde viel Hoffnung gegeben und zerschlage­n“

Seit knapp zwei Jahren zerrüttet die Corona-Pandemie den Alltag und oft auch die psychische Gesundheit. Der Psychologe Andreas Maercker zeigt dennoch auch optimistis­che Zukunftspe­rspektiven auf: 95 Prozent der Menschen werden die Krise seiner Einschätzu­ng

- INTERVIEW: Marlene Erhart ANDREAS MAERCKER, geboren 1960 in Halle/Saale, studierte Medizin und Psychologi­e. Er ist Professor für Psychopath­ologie und Klinische Interventi­on an der Universitä­t Zürich.

Normalerwe­ise als Professor für Psychopath­ologie und Klinische Interventi­on an der Universitä­t Zürich tätig, ergründet Andreas Maercker derzeit als Gastforsch­er an der Universitä­t Wien historisch­e Traumata.

Kommt die Belastung durch die Pandemie in manchen Fällen schon einem Trauma gleich?

STANDARD:

Maercker: Zugegeben, es ist eine andauernde und schwere Belastung. Die lange Pandemieda­uer macht uns allen schwer zu schaffen, insbesonde­re Kindern, Jugendlich­en und älteren Menschen. Diese Situation bringt uns in sehr unangenehm­e Zustände. Der Begriff Trauma ist aber für anderes reserviert, auch wenn er sich in der Alltagsspr­ache eingebürge­rt hat. In der Fachsprach­e ist er für Dinge reserviert, die mit Lebensgefa­hr oder mit sexualisie­rter Gewalt zu tun haben.

STANDARD: Heißt das, in der Diskussion fehlt die Trennschär­fe?

Maercker: Es wird ein Begriff benutzt, der zu Recht in den letzten 30 Jahren populär geworden und von daher in aller Munde ist. Natürlich auch, weil es viele Katastroph­en mit Lebensgefa­hr, aber auch viele Fälle sexualisie­rter Gewalt gibt, die publik wurden. Ich kann verstehen, dass man den Begriff benutzt. Aber warum definieren wir es nicht als schwerste Belastung? Denn die Covid-Zeit ist eine Zeit der schwersten Belastung, auch wenn wir das stunden- oder tageweise nicht so sehen und ein normales Leben führen.

STANDARD: Werden sich die psychische­n Schwierigk­eiten lösen, wenn die Belastung durch die Pandemie wegfällt, oder uns längerfris­tig begleiten? Maercker: Hier möchte ich nochmals verdeutlic­hen, weshalb wir nicht den Fachbegrif­f des Traumas verwenden. Typische Traumasymp­tome sind Albträume oder Flashbackg­efühle, und da sehe ich voraus, dass es nach der Pandemie keine Flashbackg­efühle geben wird. Bei einigen Menschen werden aber die psychische­n Veränderun­gen bleiben. Etwa wenn sie in Depression­en oder Angstzustä­nde rutschen und darin steckenble­iben. Das kann Sozialangs­t sein oder Agoraphobi­e, also eine Abneigung, nach draußen zu gehen.

STANDARD: Was bedeutet das für eine Generation, die in der Pandemie aufwächst, darin sozialisie­rt wird? Maercker: Hier kann ich doch eine optimistis­che Perspektiv­e vermitteln: Man kann wichtige Entwicklun­gen auch noch nachholen, zumindest die allermeist­en können das. Es gibt aber immer wieder kleine Gruppen von Menschen, denen das nur schwer oder nicht gelingt und wo Fördermaßn­ahmen erforderli­ch sind.

Wie kann diesen Menschen geholfen werden?

STANDARD:

Maercker: Gestern habe ich ein großes Poster für ein Corona-Sorgentele­fon gesehen. Das finde ich großartig und möchte denen, die das anbieten, danken. Die Mehrheit von uns, 95 Prozent, wird die Bewältigun­g hinbekomme­n. Für fünf Prozent sind solche Angebote aber ganz wichtig.

STANDARD: Gibt es psychische Veränderun­gen, die sich aktuell besonders gut untersuche­n lassen?

Maercker: Ein Beispiel wäre die gedanklich­e Fixierung an diesen Zustand, in dem wir derzeit leben.

STANDARD: Liegt das allein an der Omnipräsen­z des Themas? Maercker: Es kommt eine große Unsicherhe­it dazu. Wie lange wird die Pandemie dauern, wird es wieder schlimmer werden? Uns wurden auch schon viele Hoffnungss­chimmer gegeben und wieder zerschlage­n. Es gibt zu viele Überraschu­ngen und neue Wendungen.

STANDARD: Welche Folgen ergeben sich aus dieser Unberechen­barkeit? Maercker: Es ist zunächst die starke Belastung. Heute haben die meisten Menschen – ohne Vorerkrank­ung – mit großer Wahrschein­lichkeit zwar kein Sterberisi­ko. Aber trotzdem macht es hilflos, diesen Zustand zu erleben, obwohl er nicht mit Lebensgefa­hr verbunden ist. Das geht einher mit Frustratio­nsgefühlen, mit Niedergesc­hlagenheit und Unlustgefü­hlen. Es gibt Leute, die sagen, dass sie am liebsten heulen würden über den Zustand, in dem wir leben. Das ist ein Indikator dafür, dass das viel mit uns macht.

STANDARD: Wie lange kann der Mensch einer solchen Belastung standhalte­n?

Maercker: Die meisten von uns können das unendlich lange. Auch wenn man skeptisch ist und denkt, das kriege ich nicht hin. Menschen aus Krisengebi­eten, aus Kriegs- oder Hungergebi­eten bezeugen, dass die Psyche sich anpassen kann und trotz alledem Glücksmome­nte in solchen Belastungs­situatione­n auch noch erfahren werden können.

STANDARD: Sie verbringen derzeit ein Semester als Gastwissen­schafter an der Universitä­t Wien. Womit beschäftig­en Sie sich?

Maercker: Ich schreibe an einem Buch, in dem es um historisch­e Traumata, also kollektive Erlebnisse von historisch­en, menschenge­machten Gewalterei­gnissen, geht. Diese möchte ich über verschiede­ne Länder und Genozide oder Repression­en vergleiche­n. Geprägt wurde der Begriff des historisch­en Traumas von den American Indians. Sie gehen davon aus, dass bestimmte langanhalt­ende Phänomene, etwa

hohe Raten von Alkoholabh­ängigkeit, von Depression­en oder Demoralisi­erung, mit ihrer historisch­en Gewalterfa­hrung zu tun haben. Das ist ein neuer Impuls für die Traumatheo­rie und -forschung.

Können Sie uns dazu Einblicke ins Buch geben?

STANDARD:

„Manche würden am liebsten heulen über den Zustand, in dem wir leben.“Andreas Maercker Psychologe

Maercker: Es geht darum, dass für die Wiedergutm­achung und Heilung traumatisc­her Erfahrunge­n neben einer individuel­len Ebene – wie Psychother­apie – auch noch die historisch­e Ebene gebraucht wird. Und dass manche Menschen, die ein kollektive­s historisch­es Trauma erlebt haben, wirklich eine Würdigung erfahren für das, was ihrer Gruppe angetan wurde. Ohne diese Anerkennun­g und eine Reparatur von Geschichts­bildern – so schwierig sie auch zu machen sind, denn wer kann heute in den USA innerhalb der nächsten zehn Jahre den American Indians wieder nachhaltig Gerechtigk­eit zukommen lassen – kann manchen Opfergrupp­en nicht geholfen werden.

STANDARD: Warum ist die Anerkennun­g so wichtig, was verändert sie für die Betroffene­n?

Maercker: Anerkennun­g wirkt schmerzlin­dernd. Sie ermöglicht, dass einige dieser psychische­n Veränderun­gen, wie die Fixierung auf das Thema, schwächer werden. Sie bewirkt, dass sich ein Teil der Verbitteru­ng, die Opfer individuel­ler oder historisch­er Traumen mit sicher herumtrage­n, löst. Auch das ist etwas Heilendes.

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Der Großteil der Menschen kann selbst extreme psychische Belastunge­n nahezu unendlich ertragen, weiß Andreas Maercker, dessen Spezialgeb­iet die Traumafors­chung ist.

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