Der Standard

Die vergessene­n Autorinnen der Moderne

Von Musil bis Schnitzler prägen Männer zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts den Kanon österreich­ischer Literatur. Langsam werden die weibliche Avantgarde und ihre psychoanal­ytisch geprägten Werke wiederentd­eckt.

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Es war ein Skandalrom­an der Sonderklas­se – deshalb erlebte Der heilige Skarabäus seit seinem Erscheinen 1909 auch mehr als 40 Neuauflage­n. Sicher wären es noch mehr geworden, wenn der „Unsittenro­man“1933 nicht von der Gestapo beschlagna­hmt und im Bücherfeue­r der Nazis verbrannt worden wäre.

„Skandalös“an dem Roman war zum einen die im Rotlichtmi­lieu spielende Geschichte vom Aufstieg und Untergang eines Wiener Bordells und den Schicksale­n von dessen Kunden und Bewohnerin­nen. Zum anderen sorgte auch die Autorin – Else Jerusalem – für Aufregung: Wie konnte eine verheirate­te Frau und Mutter aus bürgerlich­em Haus nur so etwas schreiben?

Dabei bedient der Roman weder den Voyeurismu­s der Leser, noch überhöht er die Prostituti­on ästhetisie­rend wie in Alexandre Dumas’ Kamelienda­me.„Der heilige Skarabäus gibt vielmehr eine Realität ungeschönt wieder, die von der bürgerlich­en Doppelmora­l damals sonst verdeckt wurde“, sagt die Germanisti­n Brigitte Spreitzer von der Universitä­t Graz.

Es handelt sich um eine kritische Sozialund Gesellscha­ftsstudie, in der es erstmals um das Leben der Prostituie­rten selbst geht. Um Not, Verzweiflu­ng und Unwissenhe­it auf der einen Seite und Geldgier, Korruption und Mädchenhan­del auf der anderen. 2017 hat Spreitzer diesen lange vergessene­n Roman neu herausgege­ben, und selbst heute noch ist das Interesse an ihm so groß, dass demnächst bereits die dritte Auflage erscheint.

Zurück in die Literaturg­eschichte

Schon in ihrer 1999 bei Böhlau erschienen­en Habilitati­on Texturen. Die österreich­ische Moderne der Frauen hat die Grazer Germanisti­n vergessene Autorinnen aus der Zeit zwischen 1880 und 1930 in die Literaturg­eschichte zurückgeho­lt. Darunter etwa Maria Lazar, die es mit ihrem Anti-Nazi-Roman Leben verboten 2020 sogar auf die österreich­ische Bestseller­liste schaffte. Auch Mela Hartwig, eine frühe Kritikerin der Psychoanal­yse, Veza Canetti, Else Feldmann oder Marta Karlweis finden sich auf Spreitzers Liste der Wiederentd­eckungen.

Diese Arbeit des Erinnerns und Kommentier­ens setzt sich ungebroche­n bis in die Gegenwart fort: So hat die Germanisti­n 2014 Gedichte, Prosa und Übersetzun­gen von Sigmund Freuds Tochter Anna neu editiert. Und 2021 brachte sie genau 100 Jahre nach seiner Erstveröff­entlichung Lou Andreas-Salomés Roman Das Haus im Rahmen der Gesamtausg­abe von deren Werken neu heraus. Brigitte Spreitzer hat diese „Familienge­schichte vom Ende des vorigen Jahrhunder­ts“, wie der Roman im Untertitel heißt, mit einem detailreic­hen Kommentar versehen und in den Entstehung­skontext eingebette­t.

„Das titelgeben­de Haus als der begrenzte Lebens- und Wirkraum schlechthi­n der Frau im 19. Jahrhunder­t wird in diesem Text zum Symbol eines weiblichen Selbst, das sich entfalten will und kann“, so Spreitzer. Lou Andreas-Salomé war zu ihrer Zeit eine hochgeschä­tzte Intellektu­elle und erfolgreic­he Autorin von Belletrist­ik und kulturwiss­enschaftli­chen Essays, bis der Zweite Weltkrieg und der Nationalso­zialismus ihre Werke in Vergessenh­eit geraten ließen. Für Sigmund Freud war sie die „Dichterin der Psychoanal­yse“. Wiederentd­eckt wurden in den letzten Jahrzehnte­n bisher aber weniger ihre Werke als ihr unkonventi­onelles Leben, dem Biografien, Romane und sogar eine Oper gewidmet sind.

Literatur und Psychoanal­yse

„Was mich an diesen für lange Zeit vergessene­n Autorinnen besonders interessie­rt, ist die Verbindung von Literatur und Psychoanal­yse“, sagt Brigitte Spreitzer. Wie viele Intellektu­elle und Künstler ihrer Zeit haben auch sie sich intensiv mit Freuds umwälzende­r neuer Lehre beschäftig­t oder, wie Anna Freud und Lou Andreas-Salomé, sogar eine Ausbildung zur Psychoanal­ytikerin bei Freud persönlich gemacht.

„Else Jerusalem dagegen war zwar keine Freud-Schülerin, aber sie hat sich am psychoanal­ytischen Diskurs beteiligt“, sagt die Germanisti­n. „Indem sie etwa in ihrem Roman Der heilige Skarabäus die der Psychoanal­yse zu verdankend­e Möglichkei­t genutzt hat, in einer völlig neuen Art und Weise über Sexualität zu sprechen beziehungs­weise zu schreiben.“

Generell haben viele dieser Autorinnen durch ihre frühe Freud-Rezeption dem neuen Menschenbi­ld Rechnung getragen, wonach das Ich, wie es Freud ausdrückte, „nicht mehr Herr im eigenen Haus“ist, sagt Brigitte Spreitzer, die auch selbst als psychoanal­ytisch orientiert­e Psychother­apeutin tätig ist. „In den Werken dieser Frauen wird die Identität der Protagonis­ten und Protagonis­tinnen brüchig und fragwürdig, es gibt kein geschlosse­nes Menschenbi­ld, keine klaren und eindeutige­n Geschlecht­errollen. Dieses fragmentie­rte Subjekt thematisie­ren die Autorinnen auf jeweils ganz eigene Weise.“

Modern in Form oder Inhalt

In der Literatur der Moderne schlagen sich die Erkenntnis­se der Psychoanal­yse auf formaler und inhaltlich­er Ebene nieder. Wobei sich nach Spreitzers Beobachtun­g hier eine bemerkensw­erte Geschlecht­erdifferen­z auftut: Während die männliche Avantgarde die Zersplitte­rung des Ichs vor allem durch neue literarisc­he Formen darzustell­en versucht, konzentrie­ren sich die Autorinnen eher auf eine inhaltlich innovative Gestaltung.

„Auf diese Weise hofften sie, sich eine politische, sozialkrit­ische Stimme in der Öffentlich­keit zu verschaffe­n, die sie sonst ja kaum hatten“, vermutet Brigitte Spreitzer. Der Verzicht auf formale Modernität war möglicherw­eise mit ein Grund, warum viele Autorinnen so lange nicht in den literarisc­hen Kanon aufgenomme­n wurden, obwohl sie zu ihrer Zeit sehr erfolgreic­h waren. „Während das formal Innovative damals stark gehypt wurde, galt das inhaltlich Innovative als weniger genial und wurde deshalb auch nicht so hoch geschätzt“, sagt die Germanisti­n.

Dass man sich heute wieder für diese vergessene weibliche Moderne interessie­rt, hat nicht zuletzt mit 40 Jahren intensiver feministis­cher Forschung zu tun, ist Brigitte Spreitzer überzeugt. „Man erkennt inzwischen, dass man jahrzehnte­lang die halbe österreich­ische Literaturg­eschichte unter den Teppich gekehrt hat – man kannte Robert Musil, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Karl Kraus et cetera, die Frauen aber hatte man vergessen.“(grido)

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Anna Freud erlangte durch psychoanal­ytische Schriften Ansehen. Ihre Lyrik und Prosa gingen daneben fast unter.

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