Österreichs wahrer Anteil an den NS-Tätern
Simon Wiesenthal behauptete im Jahr 1966, dass überproportional viele Österreicher an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen seien. Der Historiker Kurt Bauer hat diese These nun endlich überprüft.
Es waren Urteile, die heute schwer nachvollziehbar sind: In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre haben österreichische Gerichte zahlreiche schwerstbelastete NS-Verbrecher wie Franz Murer, den „Schlächter von Vilnius“, oder Frank Novak, „Eichmanns Fahrdienstleiter des Todes“, freigesprochen. Der damals 22-jährige Journalist Oscar Bronner kritisierte diese (Fehl-)Urteile 1965 in einer Artikelserie in der Zeitschrift Forum scharf.
Simon Wiesenthal, der Leiter des „Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes“, wählte im Oktober 1966 einen anderen Weg, um auf das Versagen der österreichischen Justiz bei der Fahndung und Bestrafung von NS-Tätern hinzuweisen. Er verfasste ein Memorandum unter dem Titel „Schuld und Sühne der NSTäter aus Österreich“, das er dem damaligen Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) schickte.
Dieser Text enthielt eine bis heute umstrittene These, die dem damals strapazierten Opfermythos Österreichs diametral entgegengesetzt war. Der Holocaustüberlebende Wiesenthal behauptete nämlich, dass Österreicher in der NS-Zeit überproportional viel Schuld auf sich geladen hätten: Der Prozentsatz der österreichischen NS-Täter sei weit über dem Bevölkerungsanteil der „Ostmark“am „Großdeutschen Reich“gestanden.
Belege für Wiesenthals Befund
Wiesenthal wiederholte diesen Befund in den folgenden Jahren immer wieder. Als wichtige Belege galten ihm die zahlreichen österreichischen Mitarbeiter von Adolf Eichmann und Odilo Globocnik, dem Leiter der Aktion Reinhardt zur Vernichtung der Jüdinnen und Juden, sowie der überproportional hohe Anteil der Österreicher bei den Kriegsund Massenverbrechen auf dem Balkan.
Doch hält Wiesenthals Behauptung den Zahlen und Fakten stand? Diese Frage ließ sich bis vor kurzem nicht eindeutig beantworten. Denn trotz ihrer hohen zeitgeschichtlichen Relevanz hat sich viele Jahrzehnte lang niemand die Mühe gemacht, die Thesen Wiesenthals empirisch zu überprüfen.
In den vergangenen beiden Jahren hat sich der Historiker Kurt Bauer ganz dem Thema gewidmet. Als Ergebnis seines von Barbara Stelzl-Marx (Uni Graz und Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung) geleiteten Projekts legte Bauer dieser Tage einen 270-seitigen Endbericht vor. Und darin kommt er zu einem eindeutigen Schluss: „Ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Österreichern an Nazi-Tätern ist nicht nachweisbar.“Das bedeute aber selbstverständlich keine Entlastung von der Schuld, die die österreichische Gesellschaft im Nationalsozialismus auf sich lud, betont Bauer im Gespräch mit dem STANDARD. „Es ging bei dem Projekt einzig darum, die Fakten ermitteln.“
Diese Untersuchungen waren in den vergangenen zwei Jahren aufgrund der Pandemie nicht so einfach. So konnten Recherchen im Bundesarchiv in Berlin, wo sich die Personalunterlagen über sämtliche SS-Angehörige befinden, nicht in geplanter Form durchgeführt werden. Der 60-jährige Historiker, der mit seinen Büchern zu den Ereignissen des Jahres 1934 sowie zur NS-Geschichte Österreichs Standardwerke vorlegte, behalf sich aber mit zahlreichen anderen Datenbanken und Quellen. Zudem wertete er die mittlerweile sehr umfangreiche Sekundärliteratur zum Thema nach dem Anteil der Österreicher an den NSTätern aus. (Dass in Bauers Studie und auch hier die männliche Form dominiert, liegt daran, dass er mit der Ausnahme von drei Frauen keine österreichischen NS-Täterinnen identifizieren konnte, die in seine Kategorien passten.)
Adolf Eichmann als Österreicher
Doch wer gilt für Bauer überhaupt als „österreichisch“? Das sind für ihn jene Personen, die ihren Lebensmittelpunkt zwischen 1918 und 1938 vor allem in der jungen Republik hatten. Nach diesem Kriterium zählt etwa auch Adolf Eichmann dazu: „Eichmann wurde zwar 1906 in Deutschland geboren, aber hat von 1914 bis 1933 in Österreich gelebt und sich hier politisch radikalisiert“, argumentiert Bauer. Es gebe aber einige Fälle, bei denen diese Zuordnung schwieriger sei.
Grundsätzlich machten die Ostmärkerinnen und Ostmärker nach dem März 1938 rund 8,8 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reichs aus, ähnlich hoch war auch der Anteil bei den NSDAP-Mitgliedern. Wie aber sah es konkret bei den NS-Tätern aus? Auch diese Kategorie ist nicht eindeutig, weshalb sich Bauer damit behilft, dass er rund 20 verschiedene Unterkategorien einzeln auswertet – darunter die SS-Generäle, KZ-Kommandanten, SS-Offiziere oder Mediziner in Konzentrationsund Vernichtungslagern.
In den meisten dieser 20 unterschiedlich großen Tätergruppen liegt der österreichische Anteil knapp unter den 8,8 Prozent. Deutlich höher ist er nur im KZ Mauthausen (15,9 Prozent des Personals, das insgesamt 3052 Personen umfasste), bei den 161 KZ-Medizinerinnen und -Medizinern (11,2 Prozent Österreicher) oder den Höheren SS- und Polizeiführern (14,9 Prozent von 47).
Was Bauer sehr wohl bestätigen konnte: Unter den besonders exponierten Mitarbeitern (und Tätern) Eichmanns waren rund die Hälfte Österreicher, wie auch schon der Historiker Hans Safrian zeigte. Ähnliches gilt für den Täterkreis rund um Odilo Globocnik, dem die Vernichtungslager Belzek, Sobibor und Treblinka unterstanden. Für Bauer ist das nicht weiter verwunderlich: „Auch heute holen sich Politikerinnen und Politiker solche Personen ins Team oder ins Kabinett, die sie kennen. Und bei Eichmann und Globocnik waren das eben besonders viele Österreicher.“Unter dem Strich aber waren laut Bauers Recherchen Österreicher dennoch weder in der NSDAP noch bei der SS oder den meisten Tätergruppen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern überrepräsentiert.
Für die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl (ÖAW), die am Projekt nicht beteiligt war und der nur die Kurzfassung des Endberichts vorlag, handelt es sich um eine „wichtige, verdienstvolle Forschungsarbeit“, die schon längst überfällig gewesen sei. Uhl, die zuletzt unter anderem die sehenswerte Ausstellung Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoa am Heldenplatz mitkonzipierte, gibt aber zu bedenken, dass Österreich nach dem „Anschluss“1938 insofern eine besondere Rolle zukam, als es „zum Experimentierfeld für die Radikalisierung des Antisemitismus“wurde.
„Die in Wien von Adolf Eichmann aufgebaute Bürokratie des Terrors wurde zum Vorbild für die Verschärfung der antijüdischen Politik im gesamten Deutschen Reich“, argumentiert Uhl. Diesem Befund kann auch Bauer vollinhaltlich zustimmen: „Dieser unheimliche Radikalisierungsschub in Wien nach dem März 1938 hatte fraglos eine wichtige Vorbildwirkung.“
Unterschiede bei der Verfolgung
Zwar dürfte der österreichische Anteil unter den NS-Tätern nicht höher gewesen sein als der Deutschlands. In deren Verfolgung nach 1955 unterschieden sich die beiden Länder aber sehr wohl, wie Wiesenthal 1966 kritisierte und Kurt Bauer 55 Jahre später mit Zahlen belegt: Der Anteil der von österreichischen Gerichten wegen NS-Verbrechen verurteilten Personen betrug demnach nicht einmal vier Prozent aller in Westdeutschland und Österreich verurteilten NS-Täter.