Boris Johnson sieht keinen Grund für einen Rücktritt
Britischer Premier sitzt die „Partygate“-Affäre bisher mit Unterstützung seiner Partei aus – Untersuchungsbericht wird erwartet
Die hübscheste Entschuldigung für Boris Johnson hat sich Conor Burns einfallen lassen. Die Geschichte mit der Geburtstagsparty mitten im Lockdown sei doch kein Problem, strahlte der 49-jährige Nordirland-Staatssekretär: „Soweit ich sehen kann, wurde er sozusagen mit einer Torte überfallen.“
„Ambushed with a cake“– das Zitat dürfte in die politische Geschichte Großbritanniens eingehen, ganz egal, ob der konservative Premierminister den fortdauernden Skandal um die vielfachen LockdownPartys in der Downing Street überlebt oder nicht. Was Burns und andere am Dienstag signalisierten, verdeutlichte Johnson Mittwochmittag durch seinen Auftritt in der Fragestunde des Unterhauses.
Robust, beinahe routiniert begegnete der 57-Jährige allen Rücktrittsaufforderungen der Opposition. Zu den laufenden Untersuchungen durch die Spitzenbeamtin Sue Gray und – seit Dienstag – der Metropolitan Police könne er nichts sagen, erklärte er mit gespieltem Bedauern.
Bestärkt fühlen durfte sich der Regierungschef durch die erkennbar von den Fraktionseinpeitschern geforderte Begeisterung in den eigenen Reihen. Kritik von Konservativen blieb diesmal aus, im Gegenteil: Eine nach der anderen überschlugen sich die Tory-Abgeordneten in Lobhudeleien.
Die ganze Fragestunde wirkte etwas überflüssig.
Denn ganz Westminster sowie die politisch Interessierten im Land warten derzeit nur auf den Moment, in dem Staatssekretärin Gray dem Chef ihren Untersuchungsbericht aushändigt. Insgesamt 17 LockdownEvents ist die Amtsleiterin des Kabinettsbüros nachgegangen. Offenbar waren mindestens acht davon so heikel, dass die Kriminalpolizei nun am Zug ist. Deren Ermittlungen können dauern, Gray hingegen sei „praktisch fertig“, hieß es am Mittwoch.
Seit mehr als 14 Tagen stehen Johnson und sein Team im Kreuzfeuer der Kritik. Dass der Druck auf den Premier abzunehmen scheint, liegt zum Teil am Kalkül der Opposition: Labour-Chef Keir Starmer dürfte ein angeschlagener Premier lieber sein als ein frisches Gesicht in der Downing Street.
Kein Misstrauensantrag
Vor allem aber scheinen jene die Situation neu abzuwägen, die Johnsons Geschick letztlich in der Hand haben: die 359 Mitglieder der konservativen Unterhausfraktion. Nur aus ihren Reihen kann die Initiative zum Sturz des Chefs kommen. 15 Prozent, derzeit also 54 Volksvertreter, müssen beim zuständigen Leiter des Hinterbänkler-Ausschusses „1922“, Graham Brady, schriftlich ein Misstrauensvotum beantragen. Selbst wenn Johnson die Abstimmung
gewönne wie 2018 seine Vorgängerin Theresa May, wäre er doch massiv angeschlagen.
Die Sorge vor dem eigenen Mandatsverlust schien noch vergangene Woche viele Neulinge zum Aufstand gegen Johnson anzutreiben. Mittlerweile scheinen sie einen Urnengang eher als Bedrohung zu empfinden. Tatsächlich liegt Labour in den Umfragen zwischen fünf und sieben Punkten vor den Konservativen. Und eine Neuwahl, so behauptet es Johnson-Loyalist Jacob Rees-Mogg, werde durch eine Neubesetzung des Premierministeramts unbedingt nötig.
Das ist nicht zwingend, aber vielleicht erfüllt die Drohung ihren Zweck: Wankelmütige zum Abwarten zu bewegen.
Dass dieser Tage gestandene Minister, hohe Beamte und sogar Großbritanniens Premierminister weiche Knie bekommen, wenn von Sue Gray die Rede ist, hat sich bis in die Welt der Internet-Memes herumgesprochen: „Erst einmal müssen wir abwarten, was Sue Grays Untersuchung ergibt“, erklärt in einem davon scheinbar eine Katze, die auf dem Fenstersims sitzt und ängstlich die ramponierte Jalousie begutachtet. Auf einem anderen, ebenfalls viral gegangenen Bild rechtfertigt sich ein Hund, der dabei ertappt wird, wie er seine Schnauze in einen Kochtopf steckt: „Das kann ich nicht kommentieren, bis wir
Grays Bericht kennen.“
Dass die Macher der Memes den beiden dringend tatverdächtigen Haustieren Originalzitate von Premierminister Boris Johnson aus den vergangenen Tagen ins jeweilige Maul gelegt haben, belegt die Frustration vieler Britinnen und Briten, die unter einem Lockdown litten, während ihr Regierungschef Partys feierte. Und dass Gray, eine Staatssekretärin, die ansonsten nur selten im Scheinwerferlicht steht, zur Heldin im Internet wurde, zeigt, wie groß die Unzufriedenheit mit Johnson mittlerweile ist.
Die 64-Jährige, deren Abschlussbericht über ihre Ermittlungen zu Johnsons
„Partygate“zuletzt mit Spannung erwartet wurde, könnte die Karriere des einstigen Hoffnungsträgers jäh beenden. Konservative Abgeordnete kündigten an, anhand ihrer Erkenntnisse entscheiden zu wollen, ob sie ein Misstrauensvotum anstrengen – oder nicht.
Grays Wort, so viel steht jetzt schon fest, hat Gewicht im Cabinet Office, wo sie seit Mai 2021 für Verfassungsfragen zuständig ist. „Heimliche Regierungschefin“nennen sie hinter vorgehaltener Hand die einen, „Robespierre“die anderen.
Ihren Ruf, sowohl über Machtbewusstsein als auch über mitunter furchterregende Beflissenheit zu verfügen, hat sich die Londonerin aber schon früher erarbeitet. Als Ethikbeauftragte der Downing Street entlarvte sie etwa 2017 den damaligen Vizepremier Damian Green, der über Pornobilder auf seinem Computer gelogen hatte. Nun könnte ein ganz anderes Kaliber die Abschussliste von Großbritanniens derzeit mächtigster Beamtin zieren: der Premier selbst.
Dass Gray, die mit einem nordirischen Countrysänger verheiratet ist, Partys an sich gänzlich abhold ist, darf allerdings bezweifelt werden: Ende der 1980er-Jahre unterbrach sie ihre Beamtenlaufbahn für einige Jahre, um in Nordirland ein Pub zu führen.