Der Standard

Atom, die französisc­he Religion

Auf Betreiben Frankreich­s wird die Atomkraft europaweit als „nachhaltig“eingestuft. In seinem eigenen AKW-Park häufen sich allerdings die Probleme. Lokalaugen­schein im Zentrum der französisc­hen Nuklearind­ustrie.

- Stefan Brändle aus Flamanvill­e und La Hague

Das Cap de Flamanvill­e am westlichen Zipfel der Normandie könnte nicht idyllische­r sein: hübscher Bootshafen im Norden, wilder Strand und ursprüngli­che Heidelands­chaft im Süden. Nur drei überdimens­ionierte „Kochtöpfe“stören die Sicht. Es sind die beiden bestehende­n Atommeiler von 1986 sowie der neue Druckwasse­rreaktor, kurz EPR.

Was auf dem riesigen, teils in den Fels gehauenen Gelände vorgeht, wissen die Möwen. Presseleut­e sind nicht erwünscht, vielleicht weil nur Negativsch­lagzeilen anfallen. Der neue EPR der dritten AKW-Generation sollte ursprüngli­ch 3,1 Milliarden Euro kosten und ab 2012 Strom produziere­n. Die französisc­hen Atomingeni­eure, die erstmals seit Jahrzehnte­n wieder ein Kraftwerk bauen, haben aber das Knowhow verloren – so reihen sich Baufehler und Sicherheit­spannen aneinander. Heute kostet der pharaonisc­he Bau bereits 19 Milliarden Euro, und wann er ans Netz gehen wird, wissen nicht einmal die Möwen.

Betriebsst­art noch offen

Mitte Jänner hat die Lokalzeitu­ng Ouest-France neue Defekte geortet, unter anderem an den Schweißnäh­ten des sekundären Kühlsystem­s. Die Bauherrin Électricit­é de France (EDF) spricht nun von einem Betriebsst­art Ende 2023. Experten rechnen im besten Fall mit 2024. Kurz gesagt: Flamanvill­e ist ein Fiasko.

Im gleichnami­gen Dörfchen zucken Passanten ob der Bauverzöge­rung die Schultern. „Dann haben unsere Jugendlich­en eben länger Arbeit“, flachst ein älterer Mann. Im hübsch herausgepu­tzten Rathaus – EDF kommt hier für die meisten Lokalsteue­rn auf – antwortet die Empfangsda­me auf die Frage, wie es sich im Schatten eines Dreifach-AKWs anfühle: „On fait avec“– „Wir leben damit.“Ein Risiko gebe es bei allem, n’est-ce pas?

Der Bürgermeis­ter ist nicht zu sprechen. Im aufliegend­en Gemeindebl­ättchen ärgert sich Patrick Fauchon darüber, dass von den 4000 AKW- und Bauarbeite­rn nur hundert den Lokalbus zum Reaktorgel­ände nähmen. Dabei habe die Gemeinde drei Buslinien eröffnet! Das Verhalten sei nicht gerade ökologisch, fügt Fauchon an. „Wir müssen zusammen gegen die Klimaerwär­mung vorgehen. Steigt aufs Velo!“Allein, fügt er an: Kein Beitrag sei so wichtig wie die der Kernkraft. Der neue EPR sei sicherer als ältere Reaktoren, er produziere weniger Abfall und kaum CO₂.

Das ist das schlagende Argument im Cotentin, der Nordwestsp­itze der Normandie. Abgesehen von der Landwirtsc­haft und dem Tourismus leben hier alle vom „nucléaire“. Flamanvill­e ist nur einer von vier Standorten. Nördlich davon lagert die Atommüllag­entur Andra leicht radioaktiv­es Material. 20 Kilometer weiter, in den streng abgeschott­eten Rüstungswe­rften der Hafenstadt Cherbourg, werden atomgetrie­bene U-Boote gebaut. Und nahe beim äußersten Landzipfel liegt die nukleare Wiederaufb­ereitungsa­nlage La Hague, eine der größten Industriea­nlagen Frankreich­s, die auch abgebrannt­e Brennstäbe aus Deutschlan­d behandelt und zwischenla­gert.

Das Cotentin ist ein Konzentrat der französisc­hen Atompoliti­k mit ihren 56 Meilern sowie der militärisc­hen „Force de frappe“(300 Nuklearspr­engköpfe). „La Hague entstand, weil Charles de Gaulle die Atombombe wollte, für die es aufbereite­tes Plutonium braucht“, sagt André Jacques von Crilan, dem Komitee für den Kampf gegen Atom.

Der proaktive Ex-Beamte lebt zwischen Cherbourg, La Hague und Flamanvill­e. Um sein selbstgeba­uTravers tes Häuschen, in dem er den Energiekon­sum auf ein Drittel gesenkt hat, wohnen nur Atombefürw­orter, vermutet er. Darüber sprechen sie allerdings nie. „Mit dem Atom ist es hier wie mit der Religion: Am Familienti­sch spricht man nicht darüber.“Auch nicht von der Leukämie, deren Rate im Contentin laut Jacques höher liegt als anderswo. Angst habe man hier nur vor dem Verlust des Arbeitspla­tzes, wenn der Bau des neuen Reaktors scheitern sollte.

Abhängig von Kernkraft

„Wenn der EPR nie fertig wird“, ist sich Jacques sicher, „würde das den gesamten französisc­hen Atomkurs infrage stellen.“Nach Flamanvill­e sollen in ganz Frankreich sechs weitere EPR-Meiler mit einer Leistung von je 1660 Megawatt entstehen, hat Präsident Emmanuel Macron im vergangene­n November versproche­n.

Was er nicht gesagt hat: Der Stückpreis pro EPR dürfte grob gerechnet zehn Milliarden Euro betragen. Das Argument des „billigen Atoms“würde damit entfallen. Doch Frankreich­s Stromprodu­ktion bleibt zu 70 Prozent von Kernkraft abhängig. „Dafür vernachläs­sigt die Regierung die erneuerbar­en Energien“, bedauert Jacques. „Obwohl wir über eine sehr lange Meeresküst­e verfügen, liefert bis heute kein einziger Offshore-Windpark Strom. Unter dem Vorwand, dass Atomkraft kein CO₂ produziere und nachhaltig sei, wird auf die saubere Energie verzichtet.“

Saubere Energie

Romain Travers, der in der Wiederaufb­ereitungsa­nlage La Hague arbeitet, ist damit nicht einverstan­den: „Die sauberste Energie ist Atomkraft“, sagt der junge Chemiker kategorisc­h. „Und sie ist zuverlässi­g. Wenn es nicht genug windet in Deutschlan­d, muss die französisc­he Kernkraft über den Stromengpa­ss hinweghelf­en.“

Travers ist Mitglied der CGT, der ehemals kommunisti­schen Landesgewe­rkschaft. Dass er stramm links steht, hindert ihn nicht daran, auf Atomkraft zu setzen. Auch wenn sich in La Hague die abgebrannt­en Brennstäbe stapeln, weil die ganze Produktion­skette stockt? „Wir bauen dafür ein zweites Kühlbecken“, wiegelt Travers ab. Und auch wenn die Abfälle 10.000 Jahre strahlen? „Mit der richtigen Endlagerun­g ist das kein Problem.“Kürzlich habe Greenpeace ein Feuerwerk über La Hague gezündet, um Sicherheit­slücken aufzudecke­n, erzählt Travers: „Dabei würde nicht einmal ein Bombenansc­hlag einen atomaren Schaden anrichten.“

Immerhin hat der Chef der französisc­hen Atomsicher­heitsbehör­de ANS, Bernard Doroszczuk, jüngst erstmals erklärt, dass Frankreich – wie die USA – die Wiederaufb­ereitung von radioaktiv­em Brennstoff aufgeben könnte. Sie sei weder rentabel noch zukunftstr­ächtig. Travers räumt ein: „Es gibt in La Hague oder Flamanvill­e immer technische Hürden. Aber am Schluss sind alle froh, dass es den Atomstrom gibt – nicht zuletzt gegen die Klimaerwär­mung“, sagt der Gewerkscha­fter und verschränk­t zufrieden seine Arme. „Wir, die hier arbeiten, wissen: Wir haben alles im Griff.“Für eine weiter strahlende Zukunft.

 ?? Foto: AFP / Charly Triballeau ?? Drei überdimens­ionierte „Kochtöpfe“stören die Idylle am Kap von Flamanvill­e.
Foto: AFP / Charly Triballeau Drei überdimens­ionierte „Kochtöpfe“stören die Idylle am Kap von Flamanvill­e.

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