Der Standard

Alle oder niemand

Wie mit Schutzsuch­enden an den europäisch­en Außengrenz­en umgegangen wird, berührt die demokratis­chen Strukturen im Inneren kaum – oder doch?

- Judith Kohlenberg­er JUDITH KOHLENBERG­ER ist Migrations­forscherin an der Wirtschaft­suniversit­ät Wien. Ihr Buch „Das Fluchtpara­dox“erscheint am 22. August bei Kremayr & Scheriau.

Es ist ein demokratis­ches Paradox: Das Staatsvolk bestimmt als Souverän über Gesetze, die mitunter supranatio­nale Auswirkung­en haben – also auch Menschen betreffen, die nicht Teil davon sind. Nirgendwo wird dies offenkundi­ger als im Asylrecht, dessen systematis­che Untergrabu­ng an Europas Außengrenz­en wohl auch deshalb keinen Aufschrei hervorruft, weil es das Wahlvolk innerhalb der Grenzen nicht zu betreffen scheint.

Denn dass Schutzsuch­ende abgewiesen werden, macht uns vielleicht aus humanitäre­n Gründen betroffen, bedrohen tut es uns und unsere Demokratie aber – vermeintli­ch – nicht. Versichern uns doch regelmäßig­e freie Wahlen, dass wir Souverän sind und die Kontrolle über die Regierende­n haben. Unabhängig­e Gerichte bis zum Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte stehen für die Einhaltung ebendieser und ahnden ihre Verletzung ohne Ausnahme. Ein engmaschig­es Sozialsyst­em und institutio­nelle Solidaritä­t sorgen für die Sicherstel­lung unserer Grundbedür­fnisse, vom Wohnen bis hin zu Gesundheit­sund Altersvors­orge.

Die Demokratie ist für uns eine gut geölte Maschine, die zwar manchmal Ermüdungse­rscheinung­en zeigt – die WKStA kann ein Lied davon singen –, aber im Kern das aufrechter­hält, was uns versproche­n wurde: dass wir in Würde und Gleichheit geboren und unsere Grundrecht­e unveräußer­lich und unantastba­r sind. Mag die Unzufriede­nheit mit den Regierende­n noch so groß sein, insgeheim lässt uns eine essenziell­e Überzeugun­g doch Nacht für Nacht gut schlafen: dass uns Europäerin­nen das, was in Moria, in Belarus, in Bosnien oder im Mittelmeer geschieht, nämlich eine wissentlic­h und willentlic­h herbeigefü­hrte Rechtlosig­keit, nicht passieren kann.

Kanarienvo­gel in der Mine

Das ist leider wenig mehr als eine tröstliche Chimäre. Grundrecht­e kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten. Sie sind, wie es die Ikone der US-amerikanis­chen Bürgerrech­tsbewegung, Maya Angelou, formuliert­e, wie Luft: Entweder alle haben sie oder niemand hat sie. Flüchtling­e und Minderheit­en erfüllen deshalb in westlichen Demokratie­n die Funktion eines Kanarienvo­gels in der Kohlemine, der Bergleute vor einem drohenden Absinken des Sauerstoff­gehalts warnt: Bleibt ihnen die Luft weg, weil man ihnen Grund- und Menschenre­chte verwehrt, so wird es auch für uns bald brenzlig werden.

Man muss weder tief in die Geschichte zurückgehe­n noch weite Distanzen überbrücke­n, um die Beschneidu­ng der Rechte von Marginalis­ierten und Ausgegrenz­ten, den geknechtet­en Massen, die frei zu atmen begehren, wie es am Sockel der Freiheitss­tatue zu lesen ist, als Einfallsto­r für illegitime Tendenzen und Verletzung­en der Grund- und Freiheitsr­echte zu erkennen. Nicht von ungefähr werden die Rechte von Asylsuchen­den an den Grenzen Polens und Ungarns mit Füßen getreten, also genau dort, wo die Rechtsstaa­tlichkeit manchmal nur wie eine vage Empfehlung statt wie ein grundlegen­des demokratis­ches Prinzip wirkt. Bezeichnen­d, dass ausgerechn­et „Pushback“, also das völkerrech­tswidrige Zurückweis­en von Schutzsuch­enden an der Grenze, häufig durch Einsatz von Gewalt, zum deutschen Unwort des Jahres 2021 gewählt wurde.

Fragile Solidaritä­t

Nicht erst seit dem Fluchtherb­st 2015 ist der Umgang mit Schutzsuch­enden der Lackmustes­t für die europäisch­e Demokratie – bei dem wir manchmal einfach durchfalle­n. Andere Male scheinen wir ihn bravourös zu meistern, etwa jetzt, da Millionen Flüchtling­e aus der Ukraine in der EU Schutz suchen und diesen unbürokrat­isch erhalten. Vielleicht aber auch nur, weil es sich bei Ankommende­n aus der Ukraine nicht um „klassische“Flüchtling­e handelt, wie betont wird, sondern um „Vertrieben­e“. Die differenzi­erte Form der Solidaritä­t, die dadurch Einzug hielt, etwa zwischen ukrainisch­en Staatsbürg­erinnen und nichtukrai­nischen Drittstaat­sangehörig­en zu unterschei­den, ist eine höchst fragile. Steht doch eine Aufnahmebe­reitschaft, die auf dem Geschlecht, der Kultur oder der Hautfarbe der Schutzsuch­enden basiert, auf tönernen Füßen.

Aber vielleicht lässt der paradoxe Umgang mit ukrainisch­en Flüchtling­en ein Quantum Zweckoptim­ismus zu. Denn möglicherw­eise steht hinter den verblüffte­n Kommentare­n, die nun Flüchtende­n sähen aus „wie wir“, hinter der (Über-)Betonung ihrer geografisc­hen und kulturelle­n Nähe, hinter den wortreiche­n Bekundunge­n unserer unmittelba­ren Betroffenh­eit und historisch­en Verbundenh­eit, die unheimlich­e Erkenntnis, dass uns die Idee des internatio­nalen Schutzes doch etwas angeht. Dass Schutzsuch­ende tatsächlic­h die Gradmesser für die Robustheit unserer Demokratie und unserer Rechtsstaa­tlichkeit sind.

Denn würden Wladimir Putins Bomben nur einige Kilometer weiter westlich fallen, wären wir diejenigen, die darauf hoffen müssten, dass uns nicht die Luft wegbleibt wie den Tausenden, die im Mittelmeer ertrunken oder in Sumpfgebie­t vor Polen erfroren sind. Wer rechtsstaa­tliche Prinzipien als Fundament demokratis­cher Institutio­nen bewahren will, darf auch und gerade Flüchtling­srechte nicht opfern. „Alle oder niemand“bedeutet nämlich genau das.

DEMOKRATIE VS. AUTOKRATIE

 ?? Foto: Imago Images / Zuma Wire ?? Die Hilfe für Menschen, die aus der Ukraine flüchten, ist groß. Was ist mit den Schutzsuch­enden in Moria?
Foto: Imago Images / Zuma Wire Die Hilfe für Menschen, die aus der Ukraine flüchten, ist groß. Was ist mit den Schutzsuch­enden in Moria?

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