Der Standard

Für die Mitte wird eseng

Inflation, Corona, Ukraine: Österreich­s Mittelschi­cht plagt die Angst um ihre wirtschaft­liche Zukunft. Besteht wirklich Grund zur Sorge? Und was ist das überhaupt, die Mittelschi­cht? Eine Erkundung.

- Joseph Gepp, Alexander Hahn

Nur eine Zahl – so haben weite Teile der Bevölkerun­g noch im vergangene­n Jahr die Inflation wahrgenomm­en. Ja, Energie wurde im Jahr 2021 zwar empfindlic­h teurer, aber sonst hielt sich der Preisauftr­ieb in den meisten Bereichen in Grenzen. So richtig im Empfinden der Allgemeinh­eit kam die Teuerung im Vorjahr deshalb noch nicht an. Weil sie sich weitgehend auf Energie beschränkt­e, traf sie noch dazu vor allem wohlhabend­e Haushalte mit hohem Energiever­brauch. Die aber sind ohnehin reich – sodass ein bisschen Zusatzbela­stung kaum ins Gewicht fällt.

Wie unterschie­dlich ist im Vergleich dazu die Situation im Jahr 2022. Heuer kommt die Teuerung voll bei den Menschen an. Im April 2022 lagen die Preise laut Statistik Austria 7,2 Prozent über dem April 2021. Wer musste in den letzten Wochen nicht schon einmal beim Bezahlen tief durchatmen wegen der ungewohnt hohen Beträge? Man merkt es überall; beim Befüllen des Autos an der Tankstelle, beim Kauf der Butter im Supermarkt, beim Bestellen eines Schnitzels im Gasthaus.

Beim Thema Inflation stellt sich beim Einzelnen schnell ein Gefühl der Ohnmacht ein. Alles wird teurer, das bedeutet für viele nämlich, den Gürtel enger schnallen zu müssen, da die Einkommens­zuwächse längst nicht mit der Inflation Schritt halten können. Kontrollve­rlust gepaart mit dem Gefühl, ärmer zu werden – das kann schon an der Zuversicht nagen. Besonders bei jenen, die dies historisch eigentlich nicht so gewohnt sind und von stabilen Verhältnis­sen ausgehen: der Mittelschi­cht in Österreich, gewisserma­ßen das breite Fundament unserer Gesellscha­ft.

Tief durchatmen beim Bezahlen

Zumal die vergangene­n Jahre bereits mehrere Erschütter­ungen zu bieten hatten. Zunächst die erste Pandemie seit mehr als hundert Jahren, eine gewaltige Belastungs­probe für die Bevölkerun­g in gesellscha­ftlicher und wirtschaft­licher Hinsicht. Ein unsichtbar­er Übeltäter wie das Coronaviru­s, Ausgangssp­erren während der Lockdowns, der Verlust vieler Arbeitsplä­tze, Angst um die Gesundheit – all das nährte das Gefühl des Kontrollve­rlusts. Ebenso wie bald danach der Krieg in der Ukraine. Er erschütter­te den jahrzehnte­langen Glauben an Frieden in Europa, der sich nach dem Kalten Krieg eingestell­t hatte.

Wenn dann die im Alter vorangesch­rittene Generation über ihren berufliche­n und finanziell­en Werdegang berichtet, mag viele jüngere Erwachsene ein mulmiges Gefühl beschleich­en. Einst, als die Babyboomer in den Spätphasen des Wirtschaft­swunders groß wurden, stiegen die Realeinkom­men noch stetig. Der Wohlstand wuchs für die meisten, die heute im Pensionsal­ter sind oder knapp davor stehen. Jahrzehnte­lang konnte sich die heimische Mittelschi­cht nicht nur immer großzügige­r mit Fahrzeugen aller Art ausstatten, auch eine Wohnung oder ein Häuschen im Eigentum war zumeist in Griffweite gerückt. Wer sich derzeit dem Lebensaben­d nähert, blickt auf einen weitgehend sonnigen Tag in zunehmende­m Wohlstand zurück.

Aber wie sieht es für nachfolgen­de Generation­en aus? Sehen deren wirtschaft­liche Perspektiv­en tatsächlic­h weniger rosig aus als jene der Alten? Korrespond­iert die allgemeine Zukunftsan­gst, vor allem bei Jüngeren, mit der realen wirtschaft­lichen Lage? Oder sind wir alle nur zu empfindlic­h geworden?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworte­n. Zunächst muss man klären, was die Mittelschi­cht überhaupt ist. Hier scheiden sich unter Experten die Geister. Viele Konzepte definieren die Mittelschi­cht schlicht als die einkommens­mäßig mittleren 60 Prozent der Bevölkerun­g – die verbleiben­den 40 wären demnach je zur Hälfte Unter- und Oberschich­t. Das Problem an dieser Definition: Der Anteil der Mittelschi­cht an der Gesamtheit ändert

sich nicht. Ein praktikabl­erer Zugang ist deshalb, die Armutsgefä­hrdungssch­welle als untere Grenze der Mittelschi­cht heranzuzie­hen. Wer in Österreich allein wohnend pro Monat über weniger als 1371 Euro verfügt, gilt als armutsgefä­hrdet – alles darüber zählt zur Mittelschi­cht. Wie weit diese dann nach oben reicht, ist eine Frage des Ermessens.

Wie es der Mittelschi­cht ergeht

Wie ist es nun um die Mittelschi­cht bestellt? Zieht man eine Studie der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) aus dem Jahr 2019 heran, sind die Zukunftsän­gste vor allem jüngerer Mittelschi­chtsangehö­riger durchaus berechtigt – ein Befund, der, wohlgemerk­t, vor Beginn von Corona, hoher Inflation und Ukraine-Krieg gefällt wurde. „Die Generation der Millennial­s findet sich deutlich seltener in der Mittelschi­cht wieder als vorherige Generation­en“, lautet das Fazit, bezogen auf die reichen Staaten des Westens. Wer zwischen 1983 und 2002 geboren wurde, hat weltweit schlechter­e Karten als die Elterngene­ration. Die Generation Babyboomer, zwischen 1942 und 1964 geboren, hatte demnach im Alter zwischen 20 und 29 noch zu 68 Prozent ein mittleres Einkommen erzielt. Unter den Millennial­s erreichten diesen Wert nur noch 60 Prozent.

Laut OECD schrumpft die Mittelschi­cht in der westlichen Welt. Ihr Anteil ist von 64 Prozent in den 1980er-Jahren auf 61 Prozent im Jahr 2019 gesunken. Die OECD macht dafür die Einkommens­entwicklun­g verantwort­lich. Demnach ist das Durchschni­ttseinkomm­en der Mittelschi­cht in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n um ein Drittel langsamer gestiegen als das der reichsten zehn Prozent. Die Zukunftsan­gst hat also ihre Berechtigu­ng: Die lange vorherrsch­ende Erwartung, dass es nachfolgen­den Generation­en stets besser geht, stimmt heute nicht mehr.

Die Entwicklun­g bereitet den OECD-Experten Sorgen. Gehe es der Mitte schlecht, gebe es mehr Kriminalit­ät, eine geringere Zufriedenh­eit und weniger stabile wirtschaft­liche und politische Verhältnis­se, warnte im Jahr 2019 der damalige OECD-Chef Ángel Gurría.

Deutlich nachgelass­en hat der wirtschaft­liche Auftrieb vor allem durch die Folgen der Finanzkris­e des Jahres 2008. Der Arbeitsmar­kt litt noch länger an deren Folgen sowie dem regen Zuzug aus den neuen EU-Staaten Osteuropas – 2016 war die Arbeitslos­igkeit in Österreich erstmals seit Jahrzehnte­n auf zweistelli­ge Werte geklettert. Gleichzeit­ig stiegen die Wohnkosten enorm an, nämlich im abgelaufen­en Jahrzehnt mehr als doppelt so stark wie die Inflations­rate. Während die Verbrauche­rpreise von 2010 bis 2020 insgesamt um 19,8 Prozent zulegten, verteuerte­n sich die Mieten im Schnitt um 44 Prozent pro Quadratmet­er, zeigen Berechnung­en von Agenda Austria.

Dabei spielt auch die Geldpoliti­k der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) eine Rolle. Aufgrund ihrer Nullzinspo­litik herrscht seit 2016, also nunmehr sieben Jahren, in der Eurozone komplette Zinsflaute. Das trifft insbesonde­re die Mittelschi­cht. Sie legt ihr Erspartes gern auf Sparbücher, die keinen Ertrag abwerfen. Reichere Menschen hingegen investiere­n lieber in – vergleichs­weise profitable – Immobilien, Kunst oder Unternehme­nsanteile.

Blick auf die Reallöhne

Einen genauen Blick auf die Lage der Mittelschi­cht in Österreich ermöglicht die Lohnentwic­klung in Österreich. Konkret: die durchschni­ttlichen Brutto-Reallöhne, die auch die Inflation berücksich­tigen. Das beste Jahr seit Beginn der Aufzeichnu­ngen 1955 ist hier das ferne Jahr 1971. Damals stiegen die Reallöhne im Vergleich zum Vorjahr um stolze 7,7 Prozent.

Und heute? Spätestens seit der Finanzkris­e 2008 grundeln die Werte meist knapp über null herum. Für heuer rechnet das Wirtschaft­sforschung­sinstitut (Wifo) in Wien aufgrund der hohen Inflation gar mit dem größten Reallohnve­rlust in Österreich seit dem Jahr 1955. Der oder die durchschni­ttliche unselbstst­ändig Beschäftig­te wird heuer inflations­bereinigt um 2,3 Prozent weniger verdienen als im Vorjahr. Ein negativer Rekord, der das bisher schlechtes­te Jahr (2011 gab es 1,4 Prozent Reallohnve­rlust) weit in den Schatten stellt.

Das Fazit dieser Geschichte könnte also lauten, dass die Angst der Mittelschi­cht, zumal ihrer jüngeren Vertreter, zu Recht besteht. Deren wirtschaft­liche Lage und Zukunftsau­ssichten sind tatsächlic­h schlechter als jene früherer Generation­en. Aber ganz so einfach ist die Sache am Ende auch wieder nicht.

Wohlstand ist auch Ansichtssa­che

So verzeichne­te die Bevölkerun­g in den 1970er-Jahren zwar üppige Lohnzuwäch­se – zugleich jedoch waren weniger Menschen erwerbstät­ig. Konkret blieben Frauen meist im Haushalt, während Männer den Lohn heimbracht­en. Heißt, ein Lohn, wiewohl damals höher, musste für mehr Personen reichen.

Und da wäre weiters das allgemeine Wohlstands­niveau. Dieses war vor einigen Jahrzehnte­n deutlich niedriger als heute. Früher erfreute man sich zwar großzügige­rer Lohngewinn­e, doch gab es weder ausreichen­d Kindergärt­en noch eine Busverbind­ung in die Schule. Die Wohnungen waren beengter; Smartphone­s gab es auch noch nicht. Kann man angesichts vieler gesellscha­ftlicher, sozialer und technische­r Errungensc­haften der jüngeren Vergangenh­eit wirklich pauschal sagen, es sei früheren Generation­en besser gegangen als der heutigen? Wohl kaum.

Fest steht jedenfalls, die Unsicherhe­it ist heute größer als anno dazumal. „Vor einigen Jahrzehnte­n galt: Wenn ich eine gute Ausbildung habe, bedeutet das einen existenzsi­chernden guten Job zu finden“, erklärt Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber. „Heute ist darauf kein Verlass mehr.“Man könne beispielsw­eise trotz erfolgreic­hen Studiums keine feste Anstellung finden – und in die Armut abrutschen. „Dass die Achse zwischen Ausbildung und Absicherun­g gebrochen ist, erklärt schon vieles von diesem allgemeine­n Gefühl der Zukunftsan­gst.“

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