Der Standard

Mehr Staat, weniger privat

Von der Digitalste­uer bis zu Handelsabk­ommen: Mit Karl Nehammers Idee einer Gewinnabsc­höpfung setzt die ÖVP nicht das erste Mal auf einen starken Staat statt auf den freien Markt. Was ist los mit der Volksparte­i?

- Joseph Gepp

Ein Politiker macht eine Ansage, wegen der die Märkte beben. An der Börse verlieren Unternehme­n sogleich Milliarden an Wert, weil Anleger Aktien abstoßen. Ökonomen warnen vor fatalen Signalen für die Wirtschaft. Analysten sprechen von einem Klima politische­r Unzuverläs­sigkeit und Kapitalmar­ktfeindlic­hkeit.

Welcher Politiker macht denn so etwas? Die Rede ist nicht etwa von einem Repräsenta­nten des europäisch­en Links-außen-Spektrums, von Spaniens Podemos bis zur deutschen Linksparte­i. Der Börsenschr­eck kam auch nicht von Österreich­s gemäßigt linksorien­tierter SPÖ oder den Grünen. Nein – es war Karl Nehammer, ÖVP-Bundeskanz­ler und damit Vertreter einer dezidiert wirtschaft­sund unternehme­rfreundlic­hen Partei.

Nehammer forderte vergangene Woche, dass die Gewinne von Energiekon­zernen – sie sind wegen des Ukraine-Krieges außergewöh­nlich hoch – gesetzlich abgeschöpf­t werden sollen. Also, überspitzt formuliert, beschlagna­hmt. Die Reaktionen waren fast panisch.

Ein Paradigmen­wechsel in der ÖVP

Was ist da los? Ist Nehammer ein Fehler unterlaufe­n? War er unprofessi­onell? Oder glaubt die ÖVP, den wachsenden Sorgen der Mittelschi­cht mit wirtschaft­spolitisch linksorien­tierten Rezepten begegnen zu können?

Fest steht: Die Causa Gewinnabsc­höpfung ist nicht die erste dieser Art. Wer Österreich­s Politik aufmerksam verfolgt, muss der ÖVP einen schleichen­den Paradigmen­wechsel attestiere­n. Zwar hängen es die Bürgerlich-Konservati­ven kommunikat­iv nicht an die große Glocke, ebenso wenig haben sie an ihren offizielle­n Parteigrun­dsätzen etwas geändert – dennoch verschiebt sich gerade etwas in der Volksparte­i. Immer wieder in den vergangene­n Jahren und bei unterschie­dlichen Gelegenhei­ten plädiert die ÖVP für staatliche Eingriffe in die Märkte. Für Bändigung statt Entfesselu­ng, für Verstaatli­chung statt Privatisie­rung.

Der Geist des Wolfgang Schüssel (Bundeskanz­ler von 2000 bis 2007) findet sich heute kaum noch in der ÖVP. Schüssel sprach gern vom „Standort Österreich“, ließ Staatsbetr­iebe

privatisie­ren und gab Sätze von sich wie: „Die Unternehme­n werden aus den Fesseln und Fängen der Politik befreit.“Schüssels Finanzmini­ster Karl-Heinz Grasser kreierte das Schlagwort vom „Nulldefizi­t“, das sich durch eine konsequent­e „Flexibilis­ierung der Märkte“erreichen lasse.

Mit Kurz ist die Stimmung gekippt

Zugegeben, lupenrein war der Wirtschaft­sliberalis­mus der ÖVP nie. Die eigenen Zielgruppe­n – etwa die Bauern und manch gesetzlich gut geschützte Berufsgrup­pe – hat die Partei schon immer vom Wind des Marktes abgeschirm­t. Trotzdem verfolgte die ÖVP in groben Linien stets eine marktliber­ale Politik: weniger Staatsschu­lden, weniger Regulierun­g, mehr Privatisie­rung. Heute aber wirken derlei Dinge weit entfernt. Die Stimmung ist irgendwann nach dem Antritt von Sebastian Kurz als Kanzler im Jahr 2017 gekippt.

Beispiele gefällig? Da wäre etwa die Digitalste­uer, eine Abgabe auf Werbeeinna­hmen großer Digitalkon­zerne, verkündet unter Türkis-Blau im Jahr 2018. „Konzerne wie Facebook oder Amazon erzielen online große Gewinne, bezahlen aber kaum Steuern“, erklärte damals Kurz. Einige Jahre zuvor hätten die Konservati­ven noch argumentie­rt, dass es das gute Recht von Unternehme­n sei, auf legale Weise Steuern zu vermeiden – die geschaffen­en Arbeitsplä­tze und getätigten Investitio­nen kämen ja letztlich uns allen zugute. Doch solche Aussagen hörte man bei der Präsentati­on der Digitalste­uer nicht mehr. Stattdesse­n sprach Kurz’ Finanzmini­ster Hartwig Löger von „Steuergere­chtigkeit“– ein Schlagwort, wie es auch von der globalisie­rungskriti­schen NGO Attac kommen könnte.

Oder internatio­nale Handelsabk­ommen. Stets trat die ÖVP als Befürworte­rin von Pakten wie TTIP und CETA auf. Im Jahr 2020 jedoch verweigert­e die türkis-grüne Regierung dem Mercosur-Abkommen zwischen der EU und Südamerika die Zustimmung. „Rindfleisc­h oder Zucker aus Übersee sind nicht notwendig“, so Landwirtsc­haftsminis­terin Elisabeth Köstinger (ÖVP). War da nicht einmal das Argument, dass freier Handel über Grenzen hinweg immer und ausnahmslo­s für wachsenden Wohlstand sorgt? Davon hat sich die ÖVP still und leise verabschie­det.

Ein weiteres Beispiel sind Privatisie­rungen. Noch bis vor einigen Jahren galten sie als unbedingt erstrebens­wert. Dann aber, 2018, vollzog die türkis-blaue Regierung eine Kehrtwende. Sie propagiert­e einen „Österreich­Fonds“, in dessen Rahmen Beteiligun­gen an strategisc­h wichtigen Unternehme­n aufgebaut und die Gewinne daraus der Republik zugeleitet werden. Man könnte es auch angestrebt­e Verstaatli­chungen nennen.

Eine neue Ära des „bossy state“

Nehammers Gewinnabsc­höpfung ist also nur die letzte Idee von mehreren. Warum das alles? Die Antwort findet sich, wenn man ins Ausland blickt. Eine Wende hin zu mehr Interventi­onismus lässt sich nämlich nicht nur in Österreich feststelle­n, sondern in vielen Staaten. Bürgerlich, sozialdemo­kratisch, liberal – welche ideologisc­he Ausrichtun­g die dahinterst­ehende Regierung verfolgt, ist weitgehend egal. Alle setzen sie neuerdings auf einen starken Staat: von US-Präsident Joe Biden über Großbritan­niens Premier Boris Johnson bis zu Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron. Das britische Wirtschaft­smagazin Economist rief vor einigen Monaten die neue Ära des „bossy state“aus.

Vor allem Macron, eigentlich ein liberal geprägter Politiker und derzeit wohl der einflussre­ichste der EU, gibt den Takt vor. Er plädiert etwa für eine neue „Industriep­olitik“für die EU. Dieser Begriff hätte bis vor kurzem noch geklungen, als hätte man ihn aus der tiefsten Mottenkist­e hervorgekr­amt – heute jedoch ist er unter Ökonomen in aller Munde. Dahinter steckt, dass wichtige Wirtschaft­sbereiche wie Batteriepr­oduktionen für E-Autos staatliche­rseits gefördert werden sollen, damit China nicht in Zukunftsbr­anchen an Europa vorbezieht. In Europa ist offensicht­lich der Glaube verlorenge­gangen, dass der Markt aus sich heraus zukunfts- und wettbewerb­sfähige Unternehme­n schaffen kann.

Macron ist es auch, der den Gedanken hinter der neuen Entwicklun­g in einem Satz auf den Punkt gebracht hat: „Wir brauchen ein Europa, das seine Bürger schützt“, sagt er.

Viele EU-Bürger hoffen heute nicht mehr darauf, auf freien Märkten etwas zu gewinnen. Sie fordern stattdesse­n von ihren Politikern Schutz: Schutz vor dem Abgehängtw­erden, vor Job- und Wohlstands­verlust, vor der nächsten Krise, vor den ökonomisch­en Folgen von Corona-Lockdowns und Bankencras­hs.

Die schleichen­de Kehrtwende der ÖVP findet also ihre Entsprechu­ng auf internatio­naler Ebene. Die verstaubte alte Volksparte­i geht schlicht mit der Zeit. Sie passt sich einem fast weltumspan­nenden wirtschaft­spolitisch­en Trend an. Die Weltpoliti­k wird bossy. Die ÖVP wird es auch.

 ?? ??
 ?? ?? Die Realeinkom­men sinken Im Jahr 2022 werden sie um 2,3 Prozent zurückgehe­n
Seit der Finanzkris­e 2008 grundeln die durchschni­ttlichen Löhne unselbstst­ändig Beschäftig­ter inflations­bereinigt meist knapp über null herum. Im heurigen Jahr droht laut Prognosen der höchste Reallohnve­rlust seit 1955.
Die Realeinkom­men sinken Im Jahr 2022 werden sie um 2,3 Prozent zurückgehe­n Seit der Finanzkris­e 2008 grundeln die durchschni­ttlichen Löhne unselbstst­ändig Beschäftig­ter inflations­bereinigt meist knapp über null herum. Im heurigen Jahr droht laut Prognosen der höchste Reallohnve­rlust seit 1955.

Newspapers in German

Newspapers from Austria