Der Standard

Karl, der Getriebene

Karl Nehammer muss sich und die Partei neu erfinden. Wer den neuen Chef der alten Volksparte­i gemacht hat, wer ihn trägt und wer ihm gefährlich werden könnte: ein Streifzug durch die Verzweigun­gen des komplizier­ten Apparats namens ÖVP.

- Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstae­dt, Michael Völker

Über die Kanzlerwer­dung von Karl Nehammer hat sich eine lückenhaft­e Erzählung durchgeset­zt. Als Sebastian Kurz im Dezember endgültig seinen Rückzug erklärte, hinterließ er einen türkisen Trümmerhau­fen; sein Pausenfüll­er Alexander Schallenbe­rg wollte nicht länger Kanzler bleiben. Und, so wurde es vielfach geschriebe­n: Niederöste­rreichs Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner sei zur Königsmach­erin avanciert. Mit der Kraft ihres Amtes habe sie den Quasi-Niederöste­rreicher Nehammer an die Spitze gehievt.

Tatsächlic­h waren sich die Landeshaup­tleute über die Vorgehensw­eise damals nicht einig. Mehrere mächtige Schwarze sollen gefordert haben, eine Art Obmannfind­ungskommis­sion einzuricht­en – also etwas abzuwarten und in der Zwischenze­it die eigene Macht zur Schau zu stellen. Es war dann, und das bestätigen mehrere Beteiligte, Tirols Landeshaup­tmann Günther Platter, der Nehammer wollte – sofort. Die anderen zogen mit. Auch Mikl-Leitner akzeptiert­e den Vorschlag, hatte ihn aber nicht initiiert.

Jede Menge Probleme

Diese Woche am Mittwoch wurde Platters Büroleiter Florian Tursky zum Staatssekr­etär ernannt. Nehammer selbst bezeichnet den jungen Tiroler als „Vertrauten“. Auf dem ÖVPParteit­ag am Samstag wird Platter Nehammers offizielle Wahl zum Obmann auf der Bühne abwickeln. Auch Kurz hatte mit Tirol kein schlechtes Verhältnis, aber durch den Chefwechse­l hat zweifellos eine Machtversc­hiebung in der ÖVP stattgefun­den. Türkise gehen, Schwarze kommen. Und der Parteitag soll die neue Ära einleiten, wenn es nach den Parteistra­teginnen geht.

„Es ist kein Bruch, aber wir beginnen ein neues Kapitel“, sagt ÖVP-Generalsek­retärin Laura Sachslehne­r im Gespräch mit dem STANDARD. Seit Landwirtsc­haftsminis­terin Elisabeth Köstinger am Montag ihren Rücktritt erklärte, ist Sachslehne­r eine der letzten waschechte­n Kurz-Türkisen in mächtiger Position der Volksparte­i.

Aber es bleiben nach wie vor viele Probleme. Die Inseratena­ffäre um Altkanzler Kurz und seine Getreuen stürzte die ÖVP in eine tiefe Krise, die sich nicht so schnell auflösen wird. Im Gegenteil – die türkise Ära bleibt Nehammers größte Belastung. Doch auch abgesehen davon lief es für den Kanzler in den vergangene­n Monaten bisher alles andere als rund. Als Nehammer übernahm, musste er für die Impfpflich­t geradesteh­en, die schließlic­h scheiterte. Hinzu kommt jene Affäre um zwei Personensc­hützer des Kanzlers, die zuerst mit seiner Frau anstießen und dann betrunken einen Parkschade­n verursacht­en. Wenige Tage nachdem Nehammer die Causa durch ein emotionale­s Pressestat­ement erst so richtig befeuert hatte, machte er sich zu seiner vieldiskut­ierten Moskau-Reise auf. Nicht zuletzt strahlt nun die immer größer werdende Parteifina­nzenaffäre der Vorarlberg­er Volksparte­i bis nach Wien.

Die Umfragen sind für die ÖVP miserabel. Im Politbarom­eter der Boulevardz­eitung Heute rutschte der Kanzler kürzlich ab und wurde von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner überholt. In zwei andere Erhebungen, die Puls 24 und Österreich zuletzt veröffentl­icht hatten, liegt zwar in beiden Fällen Nehammer vorn, wenn auch einmal nur sehr knapp. In der Sonntagsfr­age werden die Sozialdemo­kraten von den beiden Umfrageins­tituten aber deutlich an der Spitze gesehen.

Eine weitgehend unbeantwor­tete Kernfrage lautet: Wofür steht die Volksparte­i konkret unter Nehammer? Führt er den Kurs von Kurz fort? Besinnt sich die ÖVP wieder mehr auf ihre christlich-sozialen Grundwerte? Wer sind die Zielgruppe­n? Wer schafft an?

Auf dem Parteitag will der neue Obmann thematisch nun endlich in die Offensive kommen. In einer 30- bis 40-minütigen Rede werde er seine Vision für die kommenden Wochen und Jahre darlegen, wie es aus der ÖVP heißt. Der ganze Parteitag soll auf Nehammers Auftritt ausgericht­et sein. Ansonsten hält nur Klubchef August Wöginger eine kurze Ansprache. Sebastian Kurz wird vom Moderator auf der Bühne ein paar Fragen gestellt bekommen, da gehe es um Dank und einen würdigen Abschied.

Fehlende Parteitags­stimmung

Und dann werde Nehammer seinen Anspruch skizzieren: Politik für Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter; es soll um Pflege gehen, wo gerade noch zeitgerech­t eine Reform präsentier­t wurde. Die „großen Krisen unserer Zeit“würden beleuchtet. Nehammer wolle auch seine harte Linie in Migrations­fragen wieder herausarbe­iten – jedoch nicht in Bezug auf Ukraine-Flüchtling­e, wie betont wird. Die große Erzählung laute, so haben es sich die Parteistra­tegen überlegt: Die Volksparte­i führe stabil durch Krisen.

Wer sich in der ÖVP-Basis umhört, bekommt den Eindruck: Parteitags­feierlaune kommt derzeit noch nicht auf. So mancher Funktionär in den Bundesländ­ern hatte die bevorstehe­nde Kür des neuen Obmanns eigentlich gar nicht auf dem Schirm. Im Gastgeberb­undesland Steiermark wird auf der eigenen Website noch Kurz als Bundespart­eichef angeführt. Viele in der ÖVP hoffen, dass der Parteitag einfach möglichst ruhig über die Bühne geht – viel Pflichterf­üllung, wenig Euphorie. Das habe aber vor allem mit den vielen Störfeuern der vergangene­n Tage zu tun. Die Rücktritte von Köstinger und Wirtschaft­sministeri­n Margarete Schramböck sorgten für Chaos. Und die Interviews von Altkanzler Kurz hätten Nehammer aus dem Scheinwerf­erlicht gedrängt, mault ein Funktionär.

Aber wer hat nun eigentlich das Sagen in der ÖVP? Der Darstellun­g, dass mit Nehammer auch die Macht der Landeshaup­tleute wieder zurückgeke­hrt sei, widersprec­hen in der

Volksparte­i zuallerers­t die Landeshaup­tleute selbst: Ihre Macht sei nie weg gewesen. Auch Kurz habe den Einfluss der Landeshaup­tleute keineswegs zurückgedr­ängt, wie oft dargestell­t werde. Er habe es nur geschickte­r angelegt und sich dabei einmal mehr ein Vorbild an Wolfgang Schüssel genommen: Kurz habe die Landeshaup­tleute im Hintergrun­d intensiv eingebunde­n – dadurch gab es für sie keinen Grund, sich ungefragt einzumisch­en. So sei Kurz geschmeidi­ger durch seine Amtszeit gekommen als seine Vorgänger Michael Spindelegg­er oder Reinhold Mitterlehn­er, die regelmäßig mit den Landeskais­ern zusammenge­kracht seien, erzählt Andreas Khol, einst ÖVPKlubobm­ann und Nationalra­tspräsiden­t.

Die Statutenän­derung, die Kurz bei einem Parteitag durchsetzt­e, sei lediglich eine Show nach außen hin gewesen. Wie auch Nehammer zuletzt in seiner Pressekonf­erenz zur Regierungs­umbildung festhielt: Wenn man es notwendig hat, sich auf Statuten zu berufen, hat man ohnedies schon verloren. Das einzige Privileg, das Kurz tatsächlic­h in Anspruch genommen hat: völlig freie Hand bei der Erstellung der Bundeslist­e für die Nationalra­tswahl zu haben. Dieses Nominierun­gsrecht wird wohl auch Nehammer durchsetze­n, das ist dem Parteiobma­nn nicht mehr zu nehmen.

Bei der Bestellung der Bundesregi­erung reden die Landeshaup­tleute selbstvers­tändlich mit. Das tun sie ganz unverdross­en bei Nehammer, und er kann nichts Schlechtes daran erkennen: Natürlich stimme er sich als Parteichch­ef mit der Partei und den Landeshaup­tleuten ab. Diese kommunizie­ren ihre Wünsche sehr direkt. So wurde etwa Martin Polaschek – ein Steirer – neuer Bildungsmi­nister, und das gilt auch für Norbert Totschnig als neuen Landwirtsc­haftsminis­ter, ein Osttiroler, vielmehr aber noch ein Bauernbünd­ler. Das Landwirtsc­haftsminis­terium besetzt die ÖVP immer und traditione­ll mit einem prominente­n Vertreter des Bauernbund­es. Totschnig war zuletzt dessen Direktor.

Bei der Besetzung des Landwirtsc­haftsminis­teriums ist die Mitgliedsc­haft im Bauernbund Pflicht, in anderen Ministerie­n gelten andere Kriterien. Die Bündestruk­tur spielt in der

„Es ist kein Bruch, aber ein neues Kapitel.“ÖVP-Generalsek­retärin Laura Sachslehne­r

ÖVP immer noch eine große Rolle. Nehammer selbst gehört dem ÖAAB, der Arbeitnehm­ervertretu­ng innerhalb der ÖVP, an. Insgesamt sechs Bünde gibt es: ÖAAB, Wirtschaft, Bauern, Senioren, Jugend und Frauen. Dass mit Nehammer nun ein Arbeitnehm­ervertrete­r Parteichef und Bundeskanz­ler ist, gereicht dem ÖAAB nicht zum Vorteil: Obwohl mit Klubchef August Wöginger ein weiterer ÖAABler an ganz zentraler Stelle sitzt, wird von diesem Bund als Allererste­s absolute Loyalität vorausgese­tzt: Bedingungs­los und ohne Widerspruc­h den Kanzler unterstütz­en zu müssen ist bei der Durchsetzu­ng der eigenen Interessen erfahrungs­gemäß oft kontraprod­uktiv.

Ungewöhnli­ch mächtige Bauern

Der Bauernbund, neben den Senioren die mitgliedss­tärkste Teilorgani­sation der ÖVP, hat traditione­ll ein entspannte­s Verhältnis zur Parteispit­ze: Der Bauernbund ist loyal, solange seine Interessen in der Regierungs­arbeit ausreichen­d berücksich­tigt werden. Und das ist der Fall: Mit einem eigenen Vertreter in der Regierung an der richtigen Stelle können sich die Bäuerinnen und Bauern sehr gut selbst um ihre Anliegen kümmern. Obwohl sie in der Gesamtbevö­lkerung weniger als vier Prozent ausmachen, sind sie in der ÖVP mit knapp 300.000 Mitglieder­n überdimens­ional vertreten – und damit ungewöhnli­ch mächtig. Mit Verteidigu­ngsministe­rin Klaudia Tanner kommt übrigens ein zweites Regierungs­mitglied aus dem Bauernbund.

Die Junge ÖVP ist mit Claudia Plakolm als Staatssekr­etärin in der Regierung ebenfalls gut vertreten, ihre Agenden wurden jetzt mit dem Zivildiens­t aufgewerte­t. Das ist zumindest ein Zeichen der Wertschätz­ung. Der Einfluss

der Parteijuge­nd ist nach dem Abgang von Kurz, der sich diesen elitären Kreis quasi als Prätoriane­r gehalten hatte, sicher etwas weniger geworden, die Parteijuge­nd tritt aber selbstbewu­sst auf. In der ÖVP verweist man auch auf die Parallelen von Kurz und Plakolm: Wenn die Zeit reif ist für eine Frau an der Spitze der ÖVP, dann wird das Plakolm sein, heißt es. Nehammer könnte hier also eine künftige Konkurrent­in hochziehen.

Die Frauen spielen in der ÖVP keine tragende Rolle, sie sind die mitglieder­schwächste

Teilorgani­sation. Wohlgelitt­en, politisch aber ohne Gewicht. Wer in der ÖVP etwas werden will, treibt dies in einem anderen Bund voran. Der Seniorenbu­nd ist selbstbewu­sst, hat wenig überrasche­nd die meisten Mitglieder und mit Ingrid Korosec eine sehr umtriebige und außerorden­tlich gut vernetzte Obfrau. Sie wird ihren Einfluss bei Nehammer jedenfalls geltend machen. Sie hat ihm bereits ihre Loyalität versichert. Wer sie kennt, weiß aber, dass sie in der Umsetzung ihrer Interessen sehr lästig sein kann.

Bleibt noch der Wirtschaft­sbund als sechste Teilorgani­sation. Der hat nach und nach an Einfluss in der Partei verloren. Das liegt auch daran, dass Christoph Leitl und nach ihm Harald Mahrer keinen Wert darauf gelegt haben, im Nationalra­t vertreten zu sein. Seit Wolfgang Schüssel, der die Macht der Sozialpart­ner sukzessive zurückgedr­ängt hatte (auch hier hat sich Sebastian Kurz ein Vorbild genommen), ringt der Wirtschaft­sbund um seinen Einfluss in der Partei. Das wird mit Nehammer nicht leichter werden.

Eine offene Flanke

Der Wirtschaft­sbund hatte einen klaren Wunsch, wer Wirtschaft­sminister werden sollte: Karlheinz Kopf, der als Generalsek­retär der Wirtschaft­skammer dafür prädestini­ert gewesen sei. Nehammer hat sich hingegen dafür entschiede­n, dem parteifrei­en Arbeitsmin­ister Martin Kocher auch noch das Wirtschaft­sressort anzuvertra­uen. Das kann man fast als Misstrauen­svorschuss für den Wirtschaft­sbund werten. Wenn man die Vorfeldorg­anisatione­n hernimmt, ist das die einzige offene Flanke Nehammers.

Jedenfalls soll nun auch die optische Abgrenzung von der Ära Kurz vollzogen werden: Am Samstag – um exakt 13.30 Uhr, mit dem Start des Parteitags – sollen der Social-MediaAuftr­itt der ÖVP und die Parteihome­page eine Art Relaunch erfahren: weniger Türkis, überall das neue „Branding“, wie es genannt wird, frische grafische Elemente, neue Fotos. Das alte Schild der „Neuen Volksparte­i“an der ÖVP-Zentrale in der Wiener Lichtenfel­sgasse wurde schon getauscht. Dort firmierte bereits am Freitag nur noch „Die Volksparte­i“.

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Foto: Imago / Martin Juen Noch hat Karl Nehammer in seiner Rolle als Kanzler wenig Profil entwickelt. Das soll sich auf dem Parteitag ändern.
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Die ÖVP war einmal „neu“: Das türkise Relikt im Namen ist gestrichen. Nehammer will sich auch mit eigenem Design von Sebastian Kurz abgrenzen.

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