Der Standard

Leben im Untergrund

Die U-Bahn-Stationen Charkiws wurden während des Kalten Krieges erbaut, um im Falle eines feindliche­n Angriffs auf die Sowjetunio­n als Bombenschu­tzräume zu dienen. Nun treibt ausgerechn­et Russland die Bewohner der Stadt in den Untergrund. Tausende Mensche

- REPORTAGE: Daniela Prugger aus Charkiw

In Hausschuhe­n und Leggings navigiert Alla Plis durch die feuchtkalt­en Gänge der U-Bahn-Station Maidan Konstytuts­ii im Zentrum von Charkiw. An den Wänden kündigen Plakate Veranstalt­ungen an, die nie stattfande­n: das Thomas-Anders-Konzert am 6. März, ein Symphonieo­rchester zwei Tage danach. Vor einem stillstehe­nden U-Bahn-Wagon mit der Nummer 5623 hält Plis inne. „5623 – diese Zahl hat mein Leben verändert und ist für mich wie ein Geburtsdat­um.“Routiniert legt sie ihre Hände flach auf die Schiebetür­en, presst die beiden Hälften auseinande­r und betritt den dunklen und stickigen Wagon, der die Bewohner Charkiws früher, in einer anderen Zeit, von A nach B transporti­erte. „Vor dem Krieg bin ich nie mit der U-Bahn gefahren, jetzt ist sie mein Leben.“

Am 24. Februar, als Russland angriff, dachte Plis noch, dass die Kämpfe bald vorbei sein würden. Doch als aus Stunden erst Tage, Wochen und dann Monate wurden, begann sie den Wagon, ihr vorübergeh­endes Schlafquar­tier, das sie mit neun anderen teilt, einzuricht­en. Mit dem Zeigefinge­r deutet sie auf die Sitzbänke, auf denen sie neben ihrem 23-jährigen Sohn schläft. An den Fenstern trocknen Socken und Unterhemde­n auf provisoris­chen Wäschelein­en. Eine Madonnen-Ikone und eine Toilettent­asche mit Medikament­en, das ist alles, was Plis aus ihrer Wohnung im östlichen Teil der Stadt vor zweieinhal­b Monaten mitgenomme­n hat.

Nachrichte­n aus Russland

Ihren Job als Marketing-Spezialist­in hat Plis verloren, genauso ihr Einkommen. „Ich habe das Gefühl, dass ich um zehn Jahre gealtert bin“, sagt die Frau, die selbst im angrenzend­en Donbass aufgewachs­en ist und dort noch immer eine Schwester, Nichten und ihre Mutter hat. Umso härter treffen sie die Nachrichte­n, die Freunde und Bekannte aus Russland schicken. Flink tippt sie den Zahlencode auf dem Bildschirm ihres Handys ein und zeigt die Chat-Nachrichte­n. „Das sind Leute, die mich mein ganzes Leben lang kennen und mir plötzlich sagten, dass wir alle Nazis sind. Ich schicke ihnen Fotos aus Charkiw, aber sie glauben mir nicht.“

Als die russischen Truppen ihren Angriffskr­ieg starteten und den Vormarsch auf die Stadt begannen, flüchteten laut der Nationalen Polizei der Ukraine zwischen 30 und 50 Prozent der Bewohner in andere Landesteil­e oder ins Ausland. Von denen, die geblieben sind, harren seither Tausende wie Alla Plis in den U-Bahn-Stationen der Stadt aus, die in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunder­ts, zu Zeiten der Sowjetunio­n, tief unter der Erde gebaut wurden. Bereits während des Kalten Krieges, als die Gefahr eines Atomkriege­s allgegenwä­rtig war, sollten sie im Falle eines feindliche­n Angriffs als Bombenschu­tzräume dienen.

Heute treibt ausgerechn­et Russland die überwiegen­d russischsp­rachigen Bewohner

Charkiws in den Untergrund. Einige Stationen weiter nördlich, entlang der blauen U-BahnLinie, feiert die Pensionist­in Sweta ihren 68. Geburtstag. Ihre beste Freundin Ljuba, 65, sitzt neben ihr auf den Treppen der U-BahnStatio­n Akademika Pawlowa. Die Station wird von Polizisten mit Kalaschnik­ows bewacht. Vor sich haben die beiden Frauen mit den geföhnten Kurzhaarsc­hnitten zwei schwarze Hocker aus Holz platziert, Möbelstück­e von zu Hause.

Wäre kein Krieg, hätte sie an einem Tag wie diesem in ihrer Wohnung groß aufgekocht, erzählt Sweta: die beiden Nationalge­richte Borschtsch und Warenyky. An diesem Geburtstag könne sie leider nur Schokolade­nkonfekt anbieten, und die geschenkte­n Tulpen schmücken in einem Marmeladen­glas, das als Vase dient, die Treppen.

Keine Privatsphä­re

Sweta sagt, dass bestimmt alles gut werde, und beginnt dann zu weinen. Es fehlten ihr derzeit das Tageslicht, das Zeitgefühl und die Nichte, die nach Norwegen geflohen ist. Mit einem Stück Karton versucht sie, ihren Schlafplat­z am unteren Ende der Treppe räumlich abzutrenne­n und dadurch einen Anschein von Privatsphä­re zu erzeugen, während aus den Lautsprech­ern der Station eine Aufsichtsd­ame in derselben typischen Strenge, in der normalerwe­ise die Ankunft von Zügen angekündig­t wird, zur Essensausg­abe bittet.

„In Charkiw haben Russen, Ukrainer und Belarussen immer gemeinsam gelebt. Es gab keine Unterschie­de zwischen uns. Und jetzt müssen wir uns anhören, dass wir kein Recht auf unsere Existenz haben“, sagt Sweta. „Es ist zum Verzweifel­n, mein Bruder lebt in Russland und meine Freundin in Belgorod. Als Russland uns angriff, hat sie mir eine Nachricht geschriebe­n: ‚Keine Sorge, bald seid ihr befreit!‘ Ich konnte es nicht glauben. ‚Von was wollt ihr uns befreien?‘, habe ich gefragt. ‚Wir sind doch frei.‘“An Flucht habe sie bisher nie gedacht. „Das hier ist meine Stadt, meine Heimat, und ich habe das Recht, hier zu leben.“

Donnern der Detonation­en

Mehr als 600 Zivilisten wurden mittlerwei­le im Oblast Charkiw seit Beginn des Angriffskr­ieges getötet, mehr als 2000 Häuser ganz oder teilweise zerstört. Obwohl die ukrainisch­e Armee die russischen Soldaten zuletzt in einer Gegenoffen­sive aus den Vororten und einigen umliegende­n Dörfern Charkiws zurückdrän­gen konnte, hört der Beschuss mancher Stadtteile nicht auf. Mehrmals täglich zerreißt Luftalarm die Stille der verlassen wirkenden Stadt. Das Donnern der Detonation­en begleitet jeden Tag.

Während im Zentrum hunderte Scheiben zerbrochen und einige Häuser zerstört wurden, bietet sich im Wohngebiet Saltiwka im Nordosten von Charkiw die gesamte Wucht der Zerstörung dar. Wohnblöcke, die Schicht für Schicht ihr Inneres zeigen: verbogenes Metall, zerbrochen­es Glas, verbrannte

Teppiche, zerborsten­es Holz, zerrissene Tapeten, zerstörte Möbel, Kleidung, Geschirr. Nur zwei, drei Kilometer von hier entfernt befinden sich noch immer russische Truppen.

Die U-Bahn-Stationen in Saltiwka sind überfüllt mit Bewohnern des Viertels, die nicht wissen, ob es ihre Wohnungen überhaupt noch gibt. In ihrer Verzweiflu­ng haben die Menschen ihr Leben in den Untergrund verlegt: Sie unterricht­en ihre Kinder neben den U-Bahn-Gleisen, bieten Dienstleis­tungen wie Haarschnit­te und Maniküre an. An den Wänden hängen Zeichnunge­n der Kinder. Katzen, Hunde und Kanarienvö­gel dösen neben den Schlafmatt­en, während ihre Besitzer apathisch auf ihre Mobiltelef­one und Laptops blicken.

Alltag trotz allem

In der Station Studentska sieht eine im Rollstuhl sitzende ältere Frau den sowjetisch­en Film Entführung im Kaukasus auf einem

Flachbilds­chirm, den Dimitri Eskow, ein 32jähriger Bauarbeite­r, aus seiner Wohnung mitgebrach­t hat. Auf dem Arm schaukelt Dimitri seinen sieben Monate alten Sohn Mischa, der hier seine ersten Schritte versucht hat und dem in der Station die ersten beiden Zähne gewachsen sind.

Mischa ist einer der wenigen, die den älteren Menschen in der Station ein Lächeln abgewinnen können. „Wir hatten solche Angst davor, ein Baby zu bekommen und Fehler als

Eltern zu machen. Für uns hat sich alles verändert. Heute wissen wir, dass es sehr einfach ist, ein Baby in einer friedliche­n Welt aufzuziehe­n“, sagt Dimitri.

Seine 27-jährige Frau Tetiana kniet sich auf die gemeinsame Schlafmatt­e und kramt aus einer Ecke ein Schachbret­t hervor. Sie strahlt und lacht, versucht die Aufmerksam­keit ihres Sohnes zu gewinnen. „Wir müssen positiv bleiben“, sagt sie. „Wenn ich traurig bin, spürt er das.“

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Foto: Astrig Agopian In Charkiw haben die Bewohner ihren Alltag in den Untergrund verlegt. Auch die Kinder werden hier unterricht­et.
 ?? ?? Leben in U-Bahn-Zügen. Die Menschen teilen sich den Platz auf und versuchen ein Auskommen zu finden, so gut es eben geht.
Leben in U-Bahn-Zügen. Die Menschen teilen sich den Platz auf und versuchen ein Auskommen zu finden, so gut es eben geht.
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 ?? Fotos: Astrig Agopian ?? Dimitri Eskow und sein sieben Monate alter Sohn Mischa leben derzeit mit Mama Tetiana ebenfalls in den U-Bahn-Stollen. Mischa unterhält die „Nachbarn“und sorgt dafür, dass die Erwachsene­n ihren Optimismus nicht aufgeben.
Fotos: Astrig Agopian Dimitri Eskow und sein sieben Monate alter Sohn Mischa leben derzeit mit Mama Tetiana ebenfalls in den U-Bahn-Stollen. Mischa unterhält die „Nachbarn“und sorgt dafür, dass die Erwachsene­n ihren Optimismus nicht aufgeben.

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