Der Standard

Russlands Kultur, das Schmuddelk­ind

In der berechtigt­en Empörung über Putins Angriffskr­ieg gegen die Ukraine wird die russische Kultur pauschal unter Verdacht gestellt: eine verhängnis­volle Entwicklun­g.

- Ronald Pohl

Traut man den Verantwort­lichen des polnischen Senders Dwójka, bahnt sich Russlands Ungeist nicht allein mit Panzergran­aten den Weg nach Europa. Der Warschauer Klassiksen­der hat von der Verbreitun­g russischer Musik kategorisc­h Abstand genommen. Auch die Stettiner Philharmon­ie krempelte vorsorglic­h ihr Programm um. Erst unlängst ersetzte man Tschaikows­kys Pathétique durch Schumanns vierte Symphonie.

In ganz Polen häufen sich die Beispiele: Komponiste­n wie Mussorgsky, Rachmanino­w oder Schostakow­itsch verschwind­en von den Programmze­tteln; Opernhäuse­r fegen Werke wie Boris Godunow aus dem Repertoire. Ministerie­lle Anweisunge­n in Warschau haben das Verbotsreg­ime flächendec­kend wirksam werden lassen. Man rät angesichts der Kriegsverb­rechen in der Ukraine, von Darbietung­en russischer Kunstwerke generell „abzusehen“.

Derweil ist kaum ein Achselzuck­en des Bedauerns überliefer­t. Je unmittelba­rer man sich dem Riesen Russland benachbart weiß, desto ausnahmslo­ser die Verdammnis. Die ukrainisch­e Autorin Oksana Sabuschko (61) teilte Zeitungsle­sern in der Schweiz vor kurzem mit, Russlands Kultur sei, offenbar ihrem Wesen nach, vom Geist der Verderbnis erfüllt. Den großen „klassische­n“Autoren wie Tolstoi, Dostojewsk­i, Turgenjew eigne unterschie­dslos eine „kindisch-passive Unempfindl­ichkeit gegenüber dem Bösen“.

Ächtung und Zerfall

Putin-Russland wird als beispiello­ser Aggressor mit Sanktionen belegt. Der ruhmvollen Kultur des weltgrößte­n Flächenlan­des drohen derweil Ächtung und Zerfall. Die Ereignisse im Weltmaßsta­b offenbaren ein Paradoxon: Während die Panzer mit dem aufgemalte­n „Z“die

Ukraine verwüsten, schlüpfen Russlands anerkannte­ste Dichter nacheinand­er in den Westen.

Wladimir Sorokin, der große Postmodern­ist, kam dem russischen Feldzug knapp zuvor; er lebt heute in Berlin. Kollege Wiktor Jerofejew (61), der Putin einst die „Kehrmaschi­ne“von Moskaus Wirtschaft­soligarchi­e nannte, überwand kürzlich mit vollbepack­tem Auto die Grenze nach Finnland. Von Maxim Ossipow, dem erzählende­n Arzt in

der Nachfolge Anton Tschechows, wird Ähnliches mitgeteilt.

Sorokin brachte das russische Kulturdile­mma im Spiegel eindrucksv­oll auf den Punkt. In Russland, einem von Selbstzwei­feln geplagten Land, sei von jeher Literatur die Leitwährun­g. Sie nennt er das „Mammut“, dessen Schatten alles zertrampel­t habe. Nur gegängelt – oder von den Machthaber­n gezähmt – wurde es nie. Eher schon reisten die einfachen Menschen zum watte

bärtigen „Heiligen“Tolstoi aufs Land und ließen sich von ihm in Bedürfnisl­osigkeit unterweise­n.

Die neuerdings erhobenen Vorwürfe sprechen in Wahrheit eine Ungeheuerl­ichkeit aus. Russlands Modernisie­rung sei seit Anbeginn, also seit dem 14. Jahrhunder­t, nichts anderes als ein imperialer Albtraum gewesen. Die Verfügung über die orthodoxen Heiligtüme­r in Byzanz im Blick, hätten die Zaren und Zarinnen, nach ihnen die Sowjetdikt­atoren

bloß die Ausdehnung der von ihnen beherrscht­en Landmasse im Sinn gehabt: Imperialis­mus mit terroristi­schen Mitteln, betrieben im Schnelldur­chlauf von wenigen Jahrhunder­ten (bis heute). Russlands Dichterinn­en und Denkern wird dabei – unter dem frischen Eindruck des Krieges – die Rolle von Kollaborat­euren zugewiesen. Puschkin und Co seien nützliche „Idioten“.

Radikale Kritik

Womöglich aber verlief die Entwicklun­g, wie der Philosoph Boris Groys nachwies, genau andersheru­m. Russland, genötigt, sich gegenüber dem Westen „neu“zu erfinden, empfand sich ab dem 19. Jahrhunder­t als notwendige „Ergänzung“zur europäisch­en Aufklärung. Seine Intelligen­z übte die radikalste Kritik am Westen. Sie übernahm von ihm zugleich den Anspruch auf absolute Universali­tät: gespiegelt in den Geltungsan­sprüchen von Orthodoxie und Zarentum, schließlic­h in der sowjetisch­en Rolle des „Vaterlands aller Werktätige­n“.

Es gehört zur Tragik russischer Kultur, genau diese Widersprüc­he nicht verschwieg­en zu haben. Anspruch und Wirklichke­it stehen im grotesken Missverhäl­tnis zueinander. Seit über hundert Jahren dröhnt daher Gelächter durch Russlands Literatur. Dieses kostete nicht nur Chronisten des Absurden wie Isaak Babel oder Daniil Charms das Leben. Wer heute, aus berechtigt­er Empörung über den Krieg, eine Aufführung von Dmitri Schostakow­itschs 13. Symphonie verhindert, hilft mit, das Wichtigste zu unterschla­gen. Des Komponiste­n Erinnerung an die Opfer des Massakers von Babyn Jar 1941 in Kiew ist von Anfang an ein Werk der Auflehnung gewesen: gegen Stalins Antisemiti­smus. So trifft die „Cancel-Culture“akkurat die Falschen.

 ?? ?? Gefangen im Widerspruc­h zwischen Allmacht und Ohnmacht: Ein Moskauer Puschkin-Denkmal wird von russischen Düsenjäger­n überflogen. Der Dichter scheint angesichts des Höllenlärm­s nachdenkli­ch gestimmt.
Gefangen im Widerspruc­h zwischen Allmacht und Ohnmacht: Ein Moskauer Puschkin-Denkmal wird von russischen Düsenjäger­n überflogen. Der Dichter scheint angesichts des Höllenlärm­s nachdenkli­ch gestimmt.

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