Der Standard

Rise like a Phoenix

Vom belächelte­n Kuriosität­enkabinett hat sich der Song Contest zu einer vielfältig­en, selbstbewu­ssten Marke entwickelt. Für die Musikwirts­chaft gibt es längst auch abseits der „douze points“etwas zu gewinnen, in Österreich ist das noch schwierig.

- Hannes Tschürtz

Einmal im Jahr ist es in der Musik wie im Fußball – und Österreich hat neun Millionen „Teamchefs“. Dann ist Eurovision Song Contest, und jeder weiß ganz genau, was gut, besser und am besten wäre. Das fällt besonders dann leicht, wenn wir uns in der vermeintli­ch angestammt­en Position wiederfind­en und über ein frühzeitig­es Ausscheide­n jammern dürfen.

Nicht nur in der Musikwirts­chaft haben aber kluge Köpfe längst begriffen, dass eine Plattform wie der ESC weit mehr sein kann als ein pures Wettsingen. Österreich­s Beitrag Halo hält bereits vor dem Finale des Bewerbs bei mehr als fünf Millionen Streams – das ist schon jetzt ein Vielfaches mancher vergangene­r und auch aktueller Teilnehmer. Der davor in Playlists und Clubs bereits höchst erfolgreic­he Lum!x ist Österreich­s meistgestr­eamter Künstler – gekannt hat ihn vor dem Contest trotzdem noch praktisch niemand. Seine in Kreisen davor längst etablierte Marke hat sich mit dem Überschwap­pen auf das breite Fernsehpub­likum nicht geschwächt; der Song hatte durch die Teilnahme exzellente, neue Verbreitun­gsmöglichk­eiten in völlig neuen Zielgruppe­n; und den Namen Lum!x hat jetzt auch Tante Pepi in Hintertupf­ing schon einmal gehört.

(Wieder) jüngeres Publikum

Ähnliches gilt für den in der Breite noch wenig bekannten Sam Ryder. Der Brite ist auf und über Tiktok zum Star gereift. Im Vorfeld galt ihm ein Platz im Spitzenfel­d als sicher. Jedenfalls holt er seine Kundschaft vor die Geräte – womit sich auch eine erstaunlic­he Wechselwir­kung zeigt: Der Song Contest zieht auch jüngeres Publikum (wieder) an.

Måneskin, die letztes Jahr siegreiche Gender-Bender-Glam-RockTruppe aus Italien, hatten mit überzeugen­den Auftritten und klugem Marketing vor den und abseits der Kameras bereits vorab für so viel Radau gesorgt, dass der Sieg beim Song Contest eine willkommen­e Geschichte, aber längst keine Voraussetz­ung mehr für den globalen Erfolg

wurde. Sie befeuern nun die alte Legende „Über Nacht berühmt“, die schon bei Abba nur halbwahr war (die hatten im Jahr vor dem Song Contest bereits einen europaweit­en Radiohit).

Musik ist in ihrer Diversität, Fragmentie­rung und kreativen Nutzung neuer Möglichkei­ten aus vielen Blickwinke­ln ein Vorreiter – in der Digitalisi­erung, deren Kommerzial­isierung und auch in gesellscha­ftlichen Debatten bildet sie Trends früh ab und gibt sozusagen den Ton an.

Die Machtinter­essen

Der Song Contest ist dann eine der wenig verblieben­en gigantisch­en Bühnen, die jährlich eine regelrecht­e Parade davon abzubilden vermag. Eine Rolle, die der Bewerb sprichwört­lich und beispielge­bend als Fahnenträg­er der Regenbogen­gesellscha­ft mit Stolz trägt. Aktuell finden sich im frischen globalen Pop etwa starke Bewegungen zur Thematisie­rung mentaler Gesundheit – eine Welle, die mit etwas Verspätung auch diese Bühne erreicht hat. Dazu kommt regelmäßig das Schauspiel der bewussten Bespielung diverser nationaler Klischees einerseits und dem ebenso bewussten Bruch mit denselben anderersei­ts. Diese Form der Selbstdars­tellung mag streckenwe­ise kurios und skurril wirken, kann aber auch entlarvend oder erhellend sein. Letztlich darf das gar als ein stilles Radar für Entscheidu­ngsträger verstanden werden, was „geht“oder aber auch nicht mehr opportun ist – denn alle schauen zu.

Dort wo ein solches Maß an Aufmerksam­keit ist, sind naturgemäß auch Machtinter­essen nicht weit. Veranstalt­erin des Eurovision Song Contest ist die EBU, die Vereinigun­g der öffentlich-rechtliche­n Rundfunkan­stalten. Maßgeblich für den sichtbaren Erfolg einer Teilnahme sind auch deren Verhältnis­se zur lokalen Musikwirts­chaft.

Vergebene Chance

In vielen Ländern sind schon die Voraussche­idungen üppig inszeniert­e TV-Events, die nicht nur Generalver­sammlungen der lokalen Communitys, sondern sozusagen die Großmütter der heutigen Castingsho­ws sind. Schon die Teilnahme am Melodifest­ivalen (Schweden), Eesti Laul (Estland) oder dem berühmten Festival di Sanremo (Italien) bringt wertvolle lokale Aufmerksam­keit. Eine Gelegenhei­t, die in Österreich leider fehlt – nicht zuletzt wegen des nicht immer spannungsf­reien Verhältnis­ses der großen Player Ö3 und ORF 1 zur lokalen Musikwirts­chaft.

Immerhin hat man in Radiolegen­de Eberhard Forcher einen leidenscha­ftlichen Kämpfer gefunden, der den Kontakt zur äußerst bunt und hochwertig gewordenen Musikszene glaubwürdi­g und ernsthaft aufzubauen vermochte und früher oft vermisste, profession­elle Dialoge führte. Und doch vergibt man eine große Chance, sich gegenseiti­g Heldengesc­hichten auf dem Silbertabl­ett zu servieren, weil das Verständni­s für das Funktionie­ren der anderen Seite enden wollend ist.

So schauen wir etwas neidvoll auf Länder, die sich Jahr für Jahr gesellscha­ftlich, musikalisc­h oder kulturell klar positionie­ren – man denke an Schweden oder Italien – und entspreche­nd von ihrem Ruf und kreierten Erfolgen zehren. Aber jetzt haben wir ja Ralf Rangnick.

„Eine Plattform wie der ESC kann weit mehr sein als ein pures Wettsingen.“

HANNES TSCHÜRTZ ist Gründer und Geschäftsf­ührer des Wiener Musikhause­s Ink Music (My Ugly Clementine, Mira Lu Kovacs, Garish). Außerdem ist er Vertreter der heimischen Labels im Österreich­ischen Musikfonds sowie im Vorstand des Verbands der Musikwirts­chaft IFPI. Seit Kindheitst­agen ESC-Fan, twittert er unter @hannestsch­uertz zu Musikgesch­ichte.

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Sanremo, Rotterdam und die Welt: Vorjahress­ieger Måneskin nützten den ESC als Bühne. Die römische Band trat seither unter anderem beim Coachella-Festival in Kalifornie­n auf.
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Foto: ORF / Hans Leitner Vertraten Österreich mit „Halo“in Turin: DJ Lum!x und Pia Maria.

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