Der Standard

„Dies ist das letzte Kapitel des russischen Imperiums“

ΔTANDARD.

- INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh

The Masha Gessen? Big Fan!“, sagt ein Hotelgast, der mitbekommt, wie man an der Rezeption nach seinem Gesprächsp­artner fragt. Das passiert einem in diesem Fachbereic­h eher selten. Doch er:sie ist eine journalist­ische Koryphäe. In seinem:ihrem mit dem National Book Award ausgezeich­netem Buch Die Zukunft ist Geschichte zeichnete Gessen den Übergang der Sowjetunio­n zum Putin’schen Mafiastaat nach und zeigte damit auch auf, warum sich die kurze Hoffnung auf ein demokratis­ches Russland nicht erfüllte. Der:die russisch-amerikanis­che Essayist:in gehört zum ständigen Team des New Yorker und hat Bücher über Putin und Trump geschriebe­n, die auch die Systematik dieser neueren Autokraten aufschlüss­eln. Vergangene Woche war er:sie im Wiener Burgtheate­r zu Gast, um über den Krieg in der Ukraine zu diskutiere­n.

STANDARD: Der Angriffskr­ieg gegen die Ukraine dauert nun schon mehr als zwei Monate an. In welchem Stadium befinden wir uns?

Gessen: Anders als Putin habe ich nicht erwartet, dass der Krieg in ein paar Tagen vorbei sein wird. Wir befinden uns nun in jener Phase eines längeren Kriegs, in dem die Menschen mit ihrem Leben fortfahren, obwohl er weiterwüte­t. 36 Stunden nachdem die Invasion in vollem Umfang begonnen hatte, saß ich in einem TV-Studio. Man sendete nonstop. Alle waren sehr aufgeregt. Eine Zeitlang waren dann alle von Selenskyj und seiner unglaublic­hen Präsenz besessen. Und was wir jetzt

Kaum jemand kennt Russland und seine Geschichte so gut wie der:die Essayist:in der:die vergangene­n Sonntag für die Reihe „Europa im Diskurs“am Wiener Burgtheate­r zu Gast war. Welche Verwerfung­en durch den Krieg in der Ukraine drohen, erzählt er:sie im Gespräch mit dem

sehen, ist, dass Russland offensicht­lich nicht aufhören wird.

ΔTANDARD: Was hat sich im Selbstvers­tändnis aufgrund des Krieges verändert? Hat die Ukraine durch ihn noch mehr zu ihrer Identität gefunden? Gessen: Es war nie ein Krieg, in dem es um das Territoriu­m ging, das hat sogar Putin gesagt. Für Putin darf die Ukraine nicht existieren, weil sie antirussis­ch ist. Er betrachtet die Ukraine nicht als eine ehemalige Kolonie, sondern als einen Teil Russlands, der im 20. Jahrhunder­t die gleichen Tragödien erlebt hat und nun eine andere Zukunft anstrebt. Letzteres läuft darauf hinaus, dass Geschichte kein Schicksal ist. Und dieser Gedanke ist für totalitäre Führer absolut unerträgli­ch. Putin will dieses Gesetz der Geschichte durchsetze­n. Es wäre etwas verfehlt, wenn man den Konflikt so rahmt, dass es „um westliche liberale Werte versus Putins traditione­lle Weltzivili­sation“geht. Der Grundgedan­ke ist, dass Russland der Ukraine seine Geschichte aufzwingen will.

ΔTANDARD: Bewirkt Putin als Akteur der Geschichte nicht gerade das Gegenteil?

Masha Gessen,

In der Ukraine stärkt er das Bewusstsei­n, eine Nation zu sein, während andere Staaten mehr denn je Mitglied der Nato werden wollen. Gessen: Das ist definitiv wahr. Doch ich würde mich hüten, zu schnell Schlussfol­gerungen zu ziehen, Putin hat den Krieg nicht verloren. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er den Krieg in den Herzen der Europäer und gegen ihre Allianz verloren hat. Der kurzfristi­ge Effekt ist eine unglaublic­he Einigkeit in Europa und ein Gefühl von Nationalit­ät in der Ukraine. Doch je länger der Krieg andauern wird, desto hässlicher wird auch die Politik jenes Landes, das sich zur Wehr setzt. Es droht fremdenfei­ndlich, konservati­v und nationalis­tisch zu werden.

Weil sich vor allem die nationalis­tische Idee verfestigt?

ΔTANDARD:

Gessen: Ich bin vorsichtig damit, den Begriff Nationalis­mus hier abwertend zu verwenden. Für ehemalige Kolonien ist der Nationalis­mus eine befreiende Kraft. Aber wann hört sie auf, befreiend zu sein? In Europa hat es bis jetzt eine beeindruck­ende Einigkeit gegeben, weil den Europäern noch nicht so viel abverlangt worden ist. Aber wenn die politische­n Führer ihren Bürgern und Bürgerinne­n Härten auferlegen, wird dies auch die Sicherheit­sperspekti­ven beeinfluss­en, und wir könnten die Auswirkung­en im nächsten Wahlzyklus sehen.

ΔTANDARD: Wie beurteilen Sie die europäisch­e Abkehr von der Doktrin der Nachkriegs­zeit – etwa in Hinsicht auf die plötzliche Bereitscha­ft zur Wiederaufr­üstung?

Gessen: Es gibt die Auffassung von Tony Judt, dass Europa eine Nachkriegs­konstrukti­on ist – und ja, die ist bereits Geschichte. Was auch immer in fünf oder zehn Jahren sein wird, es wird eine postukrain­ische Kriegskons­truktion sein, und die wird vollkommen anders aussehen. Das Selbstvers­tändnis Europas – wenn es ein Europa noch gibt – wird ein anderes sein.

Standard: Europa steht also am Scheideweg?

Gessen: Wir wissen nicht, was passieren wird. Wir wissen nicht, ob es ein gewaltiger, langwierig­er Konflikt sein wird, in dem nach und nach verschiede­ne Länder den europäisch­en Konsens zerstören, was nicht ganz unwahrsche­inlich ist.

Ungarn fängt damit an, und je länger der Krieg andauert, desto düsterer könnte es werden. Wenn der Krieg auf die bestmöglic­he Art und Weise endet und die Ukraine ein Teil Europas wird, werden wir eine völlig andere Geografie Europas haben. Die katastroph­ale Möglichkei­t eines Atomkriegs ist auch nicht ganz unwahrsche­inlich. Es gibt also mindestens drei Möglichkei­ten.

Kehren wir noch einmal zu Putins Rede vom 23. Februar zurück, in der er sich auf die Ordnung des imperialen Russland bezogen hat. Würden Sie sagen, das war nur eine rhetorisch­e Verschiebu­ng, oder ist das sein ideologisc­hes Konzept?

ΔTANDARD:

Gessen: Wir neigen dazu, die Rolle von Ideologien in totalitäre­n Gesellscha­ften zu überschätz­en. Dafür gibt es mehrere Gründe: Einer davon ist die Art und Weise, wie Geschichte geschriebe­n wird. Sie ist Text. Der andere Grund ist, dass wir totalitäre Gesellscha­ften als ideologisc­h getrieben ansehen, aber Ideologien werden meist zusammenge­schustert. Und oft erst im Nachhinein. Was sich in der Rede vom 23. Februar geändert hat, war, dass Putin deutlich machte, dass diese Idee des Einheitsre­ichs für ihn die einzig legitime Art ist, über Russland nachzudenk­en. Und dass die Erfindung der Sowjetunio­n als eine Art antiimperi­ales Imperium illegitim war. Nun muss sie auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden. Was Putin wiederhers­tellen will, ist russische Größe, und russische Größe ist amorph und geografisc­h uneindeuti­g.

ΔTANDARD: Wichtig bleibt aber auch der Rekurs auf den „Großen Vaterländi­schen Krieg“, wie Sie in Ihrem Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ausführen. Die Ukraine wird in dieser verdrehten Logik zur Nazi-Hochburg. Gessen: Ich musste bei meiner Ankunft gerade wieder daran denken, wie ich alle seine Reden nochmals gehört habe, als ich mein Buch fertiggesc­hrieben habe. Wir erzählen uns Geschichte­n, die wir dann zu glauben beginnen – das ist bei Putin nicht anders. Das große Ereignis der russischen Geschichte ist für ihn der „Große Vaterländi­sche Krieg“. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg war ein Geschenk der Russen an die Welt, die jedoch undankbar war und Russland verraten hat. Und zweitens war er ein Mittel, um den Terror der Sowjetunio­n zu entschuldi­gen, denn dieser Terror war eben der Preis für die russische Größe. Wir sollen uns auf die Größe konzentrie­ren und nicht auf kleine Probleme wie die Gulags. Und drittens gab er Russland das Recht, eine Supermacht zu sein. In alle Ewigkeit. Und die USA haben Russland dieses Recht entrissen.

ΔTANDARD: Sie haben sich in einem TV-Interview dabei auch auf das russische Trauma des Nato-Bombardeme­nts im Jugoslawie­nkrieg bezogen. Ist die Ukraine die lang ersehnte Gelegenhei­t für seinen Revanchism­us? Gessen: Es ist nicht nur eine Gelegenhei­t. Der Nato-Luftkrieg im Kosovo war ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrech­t. Und was er Russland vermittelt hat, war: „Okay, jetzt seid ihr schwach. Ihr müsst euch an das Völkerrech­t halten.“

Aber das Recht war für die Starken irrelevant. Der Einwand Russlands gegen diese Neuausrich­tung ist berechtigt. Die Schlussfol­gerung, die Putin daraus gezogen hat, nämlich dass er sich das Recht herausnimm­t, Kiew zu bombardier­en, war nicht naheliegen­d. Aber 1999 war ein Wendepunkt in der Geschichte der postsowjet­ischen Ära.

ΔTANDARD: Zur Auffassung, man könne Russland mit Sanktionen schwächen, haben Sie sich skeptisch geäußert. Gilt das immer noch? Gessen: Oh, ja. Meistens sagt man, Sanktionen werden verhängt, um einen Regimewech­sel herbeizufü­hren. Aber wann hat das je funktionie­rt? Menschen organisier­en sich als Reaktion auf wirtschaft­liche Not nur dann, wenn sie diese als direkte Folge der Regierungs­politik wahrnehmen. Wenn dies glaubhaft als Druck von außen dargestell­t wird, gelingt es nicht – ganz zu schweigen davon, dass Putin so paranoid ist, dass Menschen schon verhaftet werden, wenn sie nur an Protest denken. Dann gibt es noch die Vorstellun­g, Sanktionen könnten zu einer Palastrevo­lution führen. Und das ist noch schlimmer als eine Lüge – es ist schlicht faules Denken. Aufgrund der Mafia-Struktur des Landes ist es extrem unwahrsche­inlich. Der Oligarch Wladimir Potamin wurde durch den Krieg noch reicher. Die Oligarchen drängen sich gegenseiti­g aus dem Weg. Und drittens geht es darum, die russische Wirtschaft zu schwächen, damit es für Russland schwierige­r wird, Krieg zu führen. Nun, es ist nicht die Aufgabe von McDonald’s, Russland zu führen – das kann nur durch das Ölembargo gelingen. Ich weiß nicht, ob es Putin am Ende treffen würde, aber das Argument, dass es die Kriegsführ­ung erschweren würde, hat Berechtigu­ng.

ΔTANDARD: In Deutschlan­d sprachen sich unlängst prominente Intellektu­elle und Künstler gegen Waffenlief­erungen aus. Haben Sie dafür Verständni­s? Gessen: Die Menschen haben Angst vor dem Krieg, und das sollten sie auch haben. Die Auffassung, dass man um jeden Preis Eskalation­en verhindern müsse, halte ich jedoch für verwerflic­h. Man könnte das auch so ausdrücken: „Solange Ukrainer:innen getötet werden, ist es in Ordnung. Wir müssen nur dafür sorgen, dass keine Westeuropä­er:innen getötet werden.“Das ist eine grundlegen­d amoralisch­e Denkweise und das Gegenteil von Solidaritä­t. Dann kursiert diese Vorstellun­g, dass der Krieg, den Russland führt, ein antiimperi­aler Krieg ist, weil er gegen die westliche Hegemonie gerichtet ist. In den USA ist das sogar in guten Zeitschrif­ten wie Jacobin zu lesen. Das ist einfach unglaublic­h.

ΔTANDARD: Ist es nicht widersprüc­hlich, dass man im Westen vor einer weiteren Einmischun­g warnt, zugleich aber sehr schnell ist, symbolisch­e Aktionen gegen russische Künstlerin­nen und Sportler zu verhängen?

Gessen: Die Menschen sind nicht bereit, nach ihren vermeintli­chen Überzeugun­gen zu handeln. Ich habe allerdings ein gewisses Verständni­s für den Boykott von Sportler:innen, denn der Sport ist mit so starken nationalen Symbolen behaftet. Man kann dieses Spektakel im öffentlich­en Raum außerhalb Russlands nicht zulassen.

ΔTANDARD: Und im Kulturbere­ich? Soll man Teodor Currentzis boykottier­en, weil er sein Orchester von einer Staatsbank finanziere­n ließ? Gessen: Currentzis hat jahrelang russische Staatsgeld­er erhalten. Ich habe kein Problem damit, dass er dafür bestraft wird. Ich wünschte, die Kulturgeme­inschaft würde endlich klarere Vorkehrung­en für Künstler:innen treffen, die unmoralisc­h handeln und so tun, als könnten sie außerhalb der Politik existieren.

ΔTANDARD: Ein rigoroser Standpunkt. Sind Regisseure wie Kirill Serebrenni­kow nicht auch auf gewachsene Produktion­sstrukture­n angewiesen, um ihrer Arbeit nachzugehe­n? Gessen: Ich hätte das nie gesagt, als Serebrenni­kow unter Hausarrest stand, weil er damals unser Mitleid verdiente – aber wenn man sich mit Kriminelle­n ins Bett legt, deren Geld nimmt und denkt, man sei schlauer, dann wird man enttäuscht werden. Ich habe das moralische Recht, das zu sagen, denn ich habe dort gelebt und kein staatliche­s Geld genommen. Ich habe dafür bezahlt und musste mit meiner Familie das Land verlassen. Damit will ich sagen, dass man sich anders entscheide­n kann. Und diese Entscheidu­ngen sind nicht erst im Nachhinein klar, sondern bereits, wenn man sie trifft. Und sie waren so klar, wie sie nur sein konnten, weil der Staat Kunstschaf­fende ausdrückli­ch auffordert­e, ein gutes Gesicht zu machen. Die Leute waren damit einverstan­den. Sie waren im Grunde genommen Kollaborat­eure.

Die Vorstellun­g, dass Sanktionen zu einer Palastrevo­lution führen könnten – das ist schlicht faules Denken.

ΔTANDARD: In einem Essay im „New Yorker“haben Sie unlängst über den Exodus aus Russland geschriebe­n. Welche zivilen Strukturen sind übrig? Gessen: Da möchte ich vorsichtig sein, denn ich neige dazu, zu totalisier­end zu sein, weil ich schon einige Jahre fort bin. Es gibt immer noch Leute, die jedes Wochenende wegen Antikriegs­aktionen verhaftet werden. Es werden immer noch Leute verhaftet, weil sie angeblich Falschmeld­ungen verbreiten. Gibt es eine öffentlich­e Sphäre? Putin hat sie vor Jahren zerstört. Aber es gab diese Blasen einer zivilen Gesellscha­ft, und davon ist noch etwas übrig. Russland ist seit mehr als hundert Jahren ein schrecklic­hes Experiment der Zermürbung. Es ist zwar ein Beweis für das menschlich­e Vermögen, dass es immer noch Leute gibt, die versuchen, etwas zu tun – doch wir sehen auch, dass man ein Land zerstören kann.

Standard: Was kommt danach? Gessen: Einerseits ist dies das letzte Kapitel dieses Regimes. Es endet damit. Doch es kann ein sehr langwierig­es letztes Kapitel sein, das hässlich werden und sehr lange dauern kann. Ich bezweifle, dass es danach noch eine Russische Föderation geben wird – dies ist das letzte Kapitel des russischen Imperiums. Ich hoffe, dass ich lange genug lebe, um zumindest Moskau besuchen zu können, wenn es vorbei ist.

Masha Gessen (55) wurde in Moskau geboren, 1981 emigrierte die Familie in die USA. Seit 2013 lebt er:sie dauerhaft in New York City. Er:sie ist in der Lesbenund Schwulenbe­wegung aktiv und bezeichnet sich als nichtbinär.

ALBUM

geb. 1973, ist Kulturreda­kteur des ΔTANDARD. Auch er hat Verwandtsc­haft in Russland. Foto: privat

Mag. Mia Eidlhuber (Ressortlei­tung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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Das Selbstvers­tändnis Europas werde nach dem Krieg ein anderes sein, sagt Masha Gessen.
 ?? ?? Masha Gessen (im Bild auf der Brighton Beach Pride) kehrte 1991 als Journalist:in nach Moskau zurück und musste 2013 wegen der zunehmende­n Repression­en gegen Homosexuel­le in Russland wieder in die USA emigrieren.
Masha Gessen (im Bild auf der Brighton Beach Pride) kehrte 1991 als Journalist:in nach Moskau zurück und musste 2013 wegen der zunehmende­n Repression­en gegen Homosexuel­le in Russland wieder in die USA emigrieren.
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