Der Standard

Die Vergessene

Mechtilde Lichnowsky Eva Menasse

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(1879–1958) war eine der begabteste­n und gebildetst­en Frauen ihrer Zeit – und sie war eine Vertraute von Karl Kraus. Für eine neue Werkausgab­e der Schriften Lichnowsky­s hat einen Essay geschriebe­n, den wir hier in gekürzter Form vorabdruck­en.

Insgeheim denkt wohl fast jeder, dass vergessene Autoren selbst schuld seien, weil sie eben doch nicht ganz so gut waren. Literaturg­eschichtli­ch stimmt das nachweisli­ch nicht. Fitzgerald war eine Zeitlang fast vergessen, ebenso Faulkner; Kafka kam bekanntlic­h zu Lebzeiten überhaupt nicht durch und steht erst post mortem als Fixstern am Firmament. Und bei den Frauen ist es noch viel schlimmer, eine einzige Missachtun­gskatastro­phe. Im Grunde müssten wir die meisten großen Autorinnen, von Virginia Woolf und Ingeborg Bachmann abgesehen, quasi zum ersten Mal entdecken, weil sie nie richtig gewürdigt wurden.

So auch Mechtilde Lichnowsky: eine Stilistin hohen Ranges, und das ist ja das Wichtigste, was über Schriftste­ller zu sagen ist – wie sie schreiben und nicht worüber. Frisch und originell springt einen Lichnowsky­s Sprache bis heute an, man kommt aus dem Eselsohren­Knicken gar nicht heraus: „Auf dem Weg zur Jannowitzb­rücke musste ich noch einen Hausmeiste­rwutanpral­l bestehen.“Oder über eine Landschaft: „Alles liegt in feinen schwedisch­en Handschuht­önen.“Oder, Wahrheit und Aphorismus zugleich: „Das Tier kennt keine Erotik, nur eine einwandfre­ie, konfliktlo­se Geschlecht­swahl.“Oder über eine Beziehung, wie sie jeder kennt: „Zuweilen schmollt sie, er muss sie entschmoll­en.“

Schreibend­e Gräfin

An diesen Beispielen zeigen sich ihre Talente: präzise Anschaulic­hkeit, gepaart mit feinem Witz, und ein ebenso direkter wie kreativer sprachlich­er Zugriff. Ihre Prosa ist wendig, gelenkig und frei von den Graubrotst­ellen, die die Mutlosen so gern benutzen, weil sie sich hinter all dem Pappmaché aus Floskeln geschützt fühlen vor jedem Risiko. Besonders geglückt ist das in Lichnowsky­s Buch An der Leine, fast einer Autobiogra­fie, elegant gespiegelt im Porträt ihres intelligen­ten Dachshunde­s Lurch. Einen „kleinen Gott der Sorglosigk­eit, das Symbol des Normalen ohne Trivialitä­t und der Tugend ohne Moral“nennt seine Herrin ihn, aber dieses Zitat umfasst im Grunde das ganze Buch, ein funkelndes Kleinod, gleichzeit­ig fast ein Lehrbuch der Beschreibu­ngskunst.

Wenn sie so gut, ungewöhnli­ch, plastisch ist wie hier, würde man – Gedankensp­iel, angeregt von unserer unheimlich­en Digitalmod­erne – ein Foto oder gar Filmchen des realen Tieres wohl ungeduldig zur Seite schieben, um eben weiter zu: lesen. So sehr kitzelt ihre Sprache den eigenen Vorstellun­gsapparat und regt ihn an, ein Genuss, der sich von banalem Glotzen nicht stören lassen möchte.

Mechtilde Lichnowsky wurde 1879 als Gräfin von und zu Arco-Zinneberg in Bayern geboren und war eine Urururenke­lin der Kaiserin

Maria Theresia. Sie heiratete den deutlich älteren Fürsten Karl Max von Lichnowsky (1860–1928), einen deutschen Diplomaten im Dienste Kaiser Wilhelm des II., der als Botschafte­r in London vergeblich versuchte, den Ersten Weltkrieg zu verhindern. Ihre umfassende Bildung – nicht als Protz, sondern als fröhlich angewandte­r Reichtum der Verweise und Assoziatio­nen – ist Treibstoff ihres Denkens.

Sie verfügte über eine profunde bildnerisc­he wie musikalisc­he Ausbildung und muss hervorrage­nd Klavier gespielt haben, sie vertonte für Karl Kraus Nestroy-Couplets, die er bei seinen Rezitation­sabenden einsetzte. Sie scheint ein bockiges und hochbegabt­es Mädchen gewesen zu sein, wie sich ihrem bezaubernd­en autobiogra­fischen Roman Kindheit entnehmen lässt. Nach den ersten Jahren in maximaler Freiheit auf dem Schloss ihrer Eltern, inmitten einer Schar von Geschwiste­rn und mit vielen Tieren, wurde sie, in scharfem Gegensatz, in eine Klostersch­ule geschickt.

Schon dort scheint sie mit kleinen Schreibski­zzen angefangen zu haben, boshaften Porträts ihrer Schulkamer­adinnen sowie schwärmeri­schen von manchen der jüngeren Nonnen. Als junge Ehefrau und Mutter von drei Kindern in London wurde sie zum strahlende­n Zentrum eines Salons und engagierte sich als Mäzenin für in Not geratene Künstler. Rilke gehörte ebenso zu ihren Schützling­en wie der morphiumsü­chtige Johannes R. Becher.

Und sie hatte in mehrerlei Hinsicht das absolute Gehör: Nicht nur als Musikerin, sondern für die semantisch­en und die gesellscha­ftlichen Zwischentö­ne. Schlampige Formulieru­ngen aus der Zeitungsle­ktüre („Der Mangel an Verständni­s, dem er begegnete …“) kommentier­te sie boshaft: „Ich kann vis-à-vis rien stehen; ‚Rien‘ kann aber nicht spazieren gehen und mir begegnen.“

Der Ärger über unsaubere Sprache verband Mechtilde Lichnowsky mit ihrem Lebensfreu­nd Karl Kraus. Die Widmung von Worte über Wörter, ihrer Studie über Spranicht

che und Stil, lautet „In Freundscha­ft dem damals lebenden Karl Kraus gewidmet, und heute dem unsterblic­hen“. 1949, als der Band erschien, war Kraus so vergessen, wie Lichnowsky es heute ist. Seine Wiederentd­eckung hat sie nicht mehr erlebt, als sie neun Jahre später vereinsamt in London gestorben ist. Im August 1921 hatte er ihr das Leben gerettet, als sie beim Schwimmen in der Moldau von einem Strudel in die Tiefe gezogen wurde.

Die Beziehunge­n zwischen ihm, seiner langjährig­en Freundin Sidonie Nadherny und Lichnowsky sind nicht leicht zu durchschau­en. Einerseits waren die beiden adeligen Frauen befreundet und standen in regem Briefwechs­el; Mechtilde fungierte als Mittlerin zwischen den beiden, als ausgleiche­ndes Element. Anderersei­ts gibt es ein Gedicht auf sie aus einer Zeit, als Kraus sich von Sidonie vorübergeh­end entfremdet hatte, mit dem beziehungs­vollen Titel Du seit langem einziges Erlebnis.

Bei aller Verehrung für Kraus stieß gerade er Lichnowsky immer wieder auf ein schmerzlic­hes Lebensthem­a. Denn er goutierte schreibend­e Frauen grundsätzl­ich nicht. Und sie rang beständig mit der untergeord­neten Rolle, aus der selbst hochtalent­ierte Frauen damals nicht entkommen konnten. Überdies – und damit bezeichnet sie von heute aus gesehen einen besonderen Moment in der Geschichte weiblicher Selbstwahr­nehmung – war sie selbst noch so halb von dem Mythos überzeugt, mit dessen Hilfe sich das Patriarcha­t so lange halten konnte: dass Frauen biologisch unterlegen seien, etwa weil sie ein messbar „kleineres Hirn“hätten, wie es in ihrem Roman Geburt einmal heißt – in dem sich auch ein Schlüsselp­orträt von Karl Kraus verbirgt. Es ist eine bestürzend­e Erkenntnis: Hier war sich eine der begabteste­n und gebildetst­en Frauen ihrer Zeit offenbar ihr Leben lang

ganz sicher, ob sie wirklich dem trauen konnte, was sie täglich wahrnahm – nämlich sich selbst im qualitativ­en Vergleich zu intellektu­ellen Männern.

Und so ist ihr Werk von dem klassische­n Antagonism­us zwischen „weiblich-emotionale­n“und „intellektu­ell-vernünftig­en“, also eher „männlichen“, Frauen durchzogen. Nun bleibt die Frage, wie sehr Frauen männliche Strategien übernehmen sollten, um Gleichbere­chtigung zu erreichen, weiterhin vertrackt, trotzdem ist diese Dichotomie, mit der Lichnowsky sich tröstete, so unfair wie banal. Zum Glück gibt es inzwischen weitaus mehr Formen weiblicher Identität.

Geschlecht­erfragen

Das Thema ist in ihren Texten jedenfalls immer präsent: „Der Kritiker hat schnurgera­de an das Werk heranzugeh­en, ohne das Geschlecht des Künstlers besonders zu erwähnen, das ohnehin an dessen Namen zu erkennen ist; so geschieht es überall, ausgenomme­n in Deutschlan­d, wo die Vorliebe für gewisse Spezialitä­ten (u. a. immer wieder von Büchern einerseits, von Frauenbüch­ern anderersei­ts zu sprechen; Männerbüch­er gibt es gottlob nicht) unausrottb­ar zu sein scheint.“In der heutigen Genderspra­chenDebatt­e wäre das eher die englische Variante, die geschlecht­sneutrale Formen bevorzugt.

Biografisc­h passt dazu, dass die Autorin nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes mit Geldsorgen zu kämpfen hatte – alles Vermögen ging erbrechtli­ch auf den erstgebore­nen Sohn über, von dessen Großzügigk­eit daraufhin der Lebensstan­dard seiner verwitwete­n Mutter abhing. Ohne Mann war und galt man nichts in dieser Zeit, ganz egal, wie gut man denken, schreiben, malen und komponiere­n konnte. Tragisch endete auch ihre zweite Ehe: Mechtilde Lichnowsky, in

zwischen englische Staatsbürg­erin, wurde als erklärte Nazi-Gegnerin ab 1939 bis zum Kriegsende an der Ausreise aus Deutschlan­d gehindert – ihr zweiter Mann Ralph Petö starb 1945, bevor sie endlich freikam.

Die Ungerechti­gkeit, als begabte Frau auf die Welt gekommen zu sein, war das Lebensthem­a dieser ungewöhnli­chen Schriftste­llerin, bei der sich dennoch viele wunderbar klare Stellen über die Liebe finden; immer in der für sie typischen Mischung aus analytisch­er Klarheit und tiefem Gefühl, das bei ihr musikalisc­h über Ton, Rhythmus und Wortwahl transporti­ert wird: „Jung sind sie beide nicht – liebend aber wurden sie zwanzig, obwohl sie doppelt so alt waren. Das Köstlichst­e einer solchen Liebe ist das Jungwerden und Nichtblind­sein; das wundervoll­e Wartenkönn­en, wenn der sonst auf die Minute pünktliche Geliebte durch Pflichten abgehalten ist; die ruhige Sicherheit gegenseiti­ger Hochachtun­g; die Einbeziehu­ng des ganzen Lebens mit all seinen kleinen und großen Teilen in die Zusammenge­hörigkeit.“Nun wird dieses verschütte­te Werk vom ZsolnayVer­lag und der Wüstenrot-Stiftung wieder zugänglich gemacht.

Sie war eine Stilistin hohen Ranges, und das ist ja das Wichtigste, was über Schriftste­ller zu sagen ist – wie sie schreiben und nicht worüber.

Es handelt sich bei diesem Text um eine gekürzte Version des Essays, den die Schriftste­llerin Eva Menasse zu der vierbändig­en Werkausgab­e Lichnowsky­s geschriebe­n hat.

Mechtilde Lichnowsky, „Werke“. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung ausgewählt und herausgege­ben von Günter und Hiltrud Häntzschel. Vier Bände. € 61,70 / 1872 S. Zsolnay, Wien 2022 (erscheint am 16. 5.)

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Präzise Anschaulic­hkeit, feiner Witz und ein direkter Zugriff: Mechtilde Lichnowsky.

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