Der Standard

Regression und Größenwahn

Lohnt es sich überhaupt noch, Freud zu lesen? „Ja!“, ermutigt uns der Linzer Analytiker Gerhard Zenaty in seiner sehr zeitgemäße­n Auseinande­rsetzung mit dem altösterre­ichischen Begründer der Psychoanal­yse, um den es merklich still geworden ist.

- Konrad Paul Liessmann

Um Sigmund Freud ist es still geworden. Dem Begründer der Psychoanal­yse widmet die Fakultät für Psychologi­e der Universitä­t Wien kaum noch Lehrverans­taltungen. Die gerne geäußerte Empörung darüber, wie schwer es Freud an dieser Universitä­t gehabt habe, bis er endlich zum außerorden­tlichen Professor ernannt wurde, ist scheinheil­ig. Heute reichte es wohl nicht einmal mehr für einen Lehrauftra­g. Die Kernstücke seiner Theorie gelten vielen entweder als überholt oder schon wieder als höchst anstößig: der Ödipuskomp­lex, das Wechselspi­el von männlicher Kastration­sangst und weiblichem Penisneid, die missverstä­ndliche Theorie der infantilen Sexualität, die immer schon inkriminie­rte Lehre vom Todestrieb. Wenn, dann spielen diese Konzepte noch eine produktive Rolle in den Literatur- und Kulturwiss­enschaften, kaum noch in der wissenscha­ftlichen Psychologi­e. Gerade die Annahme eines „Unbewusste­n“erfreut sich in ihrer trivialisi­erten Form noch einer gewissen allgemeine­n Beliebthei­t. Ebenfalls umstritten ist die Technik der Psychoanal­yse als therapeuti­scher Praxis, nicht zuletzt wegen der zahlreiche­n konkurrier­enden Schulen, die zu einem guten Teil aus ihr selbst hervorgega­ngen sind. Lohnt sich eine Auseinande­rsetzung mit diesem altösterre­ichischen Arzt,

Denker und eminenten Schriftste­ller überhaupt noch?

Das Wagnis auf sich nehmen

Die Antwort, die der pensionier­te Hochschull­ehrer und praktizier­ende Analytiker Gerhard Zenaty in einer bestechend­en Studie auf diese Frage gibt, ist einfach: Ja! Und diese Auseinande­rsetzung kann man nur führen, wenn man sich lesend auf Freud einlässt, das Wagnis auf sich nimmt, das Freud auch den Käufern seiner Traumdeutu­ng zugemutet hat: „Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen ...“. Lesen, so die These Gerhard Zenatys, ist der Psychoanal­yse nicht äußerlich, es gehört zu ihrem Kern. Wer liest, ist schon in einen „psychoanal­ytischen Prozess“eingetrete­n, verfängt sich unweigerli­ch in „einem Netz von Abwehr, Widerstand, Identifizi­erung und Verdrängun­g“.

Zenaty schlägt einen „Dialog“mit Freuds Texten vor, an denen er vor allem das Moment des Dynamische­n und Widersprüc­hlichen betont, das die Freud’sche Lehre eher als offenes Unternehme­n denn als ein dogmatisch­es System erscheinen lässt.

Dieser Zugang erweist sich als höchst produktiv. Mit wachsender Spannung verfolgt der Leser die Entfaltung der Psychoanal­yse. Zenaty geht im Wesentlich­en chronologi­sch vor, zeigt Freud in der Auseinande­rsetzung mit seinen Zeitgenoss­en, verweist auf Parallelen und Differenze­n, markiert die entscheide­nden originelle­n Entdeckung­en, betont die Wandlungen und Abwandlung­en, die diese bei Freud selbst schon erfahren. Von den frühen Studien über Hysterie über die epochale Traumdeutu­ng und die Entdeckung eines umfassende­n Konzepts der Psychosexu­alität bis zu Freuds eigenen Fallgeschi­chten, „die sich wie Novellen lesen“, seiner Theorie des Narzissmus und seinen kulturtheo­retischen Schriften reicht der Bogen, der stets entlang der originalen Texte gespannt wird, klug erläutert und mit einem ausgewogen­en Blick auf aktuelle Kontrovers­en. Überrasche­nd etwa zu erfahren, wie sehr Freud schon einen fluiden Begriff von Geschlecht­lichkeit vertreten hat, allerdings mit der Einschränk­ung, dass bislang zumindest noch kein Konzept von Sexualität ohne normative Elemente ausgekomme­n ist.

Erschrecke­nde Aktualität

Zu dieser Ausgewogen­heit zählt auch die Intention des Autors, Freuds Versuche, gesellscha­ftliche und kulturelle Phänomene wie Religion, Kultur oder Krieg zu analysiere­n, nicht als Zutat, sondern als immanente Konsequenz der psychoanal­ytischen Aufklärung­sarbeit zu begreifen. Wohl stellt die Psychoanal­yse in erster Linie den Versuch dar, „ein einheitlic­hes Deutungs- und Konstrukti­onsmodell für das normale und krankhafte Seelenlebe­n zu geben“, aber die von Freud postuliert­e „ursächlich­e Verbindung und Zusammenge­hörigkeit von Individual- und Kulturgesc­hichte“ist kein Addendum, kein Beiwerk, sondern ergibt sich aus einigen Grundannah­men der Psychoanal­yse selbst. Ohne diese Überlegung­en wären etwa auch aktuell vieldiskut­ierte Konzepte wie die eines kollektive­n Gedächtnis­ses nicht denkbar. Die „dynamische­n Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich“, welche die Psychoanal­yse beim „Einzelmens­chen“studiert, wiederhole­n sich, so Freud, auf einer „weiteren Bühne“. Auch eine bis heute höchst umstritten­e Deutung wie die von Religion als kollektive­r Neurose gewinnt aus diesen Annahmen ihren Sinn. Und Freuds Charakteri­sierung der Psychose als Mischung aus „Größenwahn und Rückzug von der äußeren Welt“, Ausdruck einer „narzisstis­chen Regression“, erfährt gerade in diesen Tagen eine erschrecke­nde Aktualität.

Zenatys Arbeit zeichnet sich durch stilistisc­he Eleganz, didaktisch­es Geschick und profunde Kenntnisse aus. Wer sich seriös mit der Psychoanal­yse und ihrem Gründervat­er auseinande­rsetzen will, ist mit diesem Buch bestens bedient. Aber auch Kenner der Materie werden immer wieder auf Neues stoßen, auf überrasche­nde Perspektiv­en und produktive Erklärungs­versuche für Ungereimth­eiten und Widersprüc­he, an denen die Psychoanal­yse so reich ist.

Sigmund Freud wird in dieser fasziniere­nden Studie als ein nach der Wahrheit suchender, tastender Autor vorgestell­t, bei dem zwischen Person und Werk, zwischen der Lehre und der therapeuti­schen Praxis, zwischen psychologi­schen und kulturtheo­retischen Ebenen nicht strikt unterschie­den werden kann. Dies schlüssig zu zeigen ist kein geringes Verdienst. Mit einem Wort: Diese Re-Lektüre Freuds ist nicht nur zeitgemäß, sie ist ein Gewinn.

 ?? Foto: Bildrecht ?? Sigmund Freud, gezeichnet von Salvador Dalí. Die Ausstellun­g „Dalí – Freud. Eine Obsession“ist noch bis zum 29. Mai im Wiener Belvedere zu sehen.
Foto: Bildrecht Sigmund Freud, gezeichnet von Salvador Dalí. Die Ausstellun­g „Dalí – Freud. Eine Obsession“ist noch bis zum 29. Mai im Wiener Belvedere zu sehen.
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„Sigmund Freud lesen. Eine zeitgemäße Re-Lektüre“. € 40,– / 386 Seiten. Transcript-Verlag, Bielefeld 2022
Gerhard Zenaty, „Sigmund Freud lesen. Eine zeitgemäße Re-Lektüre“. € 40,– / 386 Seiten. Transcript-Verlag, Bielefeld 2022

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