Der Standard

Missing Gnackwatsc­hn

Missing Link war eine der wichtigste­n Avantgarde­gruppen der Siebzigerj­ahre. Eine ziemlich gewaltige Ausstellun­g im Mak macht die Bedeutung der drei Avantgardi­sten nun sichtbar und lesbar.

- Wojciech Czaja www.mak.at

In der nachfolgen­den Sendung stellen sie Ihnen den Prototypen für einen zukünftige­n Menschen vor, der seine Probleme mit der Umwelt auf eine so eindeutige Weise gelöst hat, dass wir eigentlich Anlass zu den größten Befürchtun­gen haben müssten“, sagt Hans Preiner am 16. November 1972 – drei Jahre bevor er in seiner Sendereihe Impulse den österreich­ischen Volltreffe­r

Ein echter Wiener geht nicht unter landet – auf FS2 live in die Kamera. „Dennoch ist der Prototyp nicht ganz unglücklic­h: Er hat sich immer noch einige ganz beträchtli­che Eigenheite­n und Freiheiten bewahrt, über die nur er alleine und für sich selber verfügen kann. Wie diese Freiheiten nun aussehen – sie liegen nach Meinung der Autoren ganz hart an der Grenze zum Traum.“

Diese fast schon surrealen, angsteinfl­ößenden Worte wurden an ebenjenem Donnerstag im ORFHauptab­endprogram­m um 19 Uhr ausgestrah­lt. Es folgte ein 25-minütiger Schwarz-Weiß-Film unter dem nicht minder dadaistisc­hen Titel

16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern. Mit sperrigen Klängen untermalt, sieht man darin den späteren Architektu­rtheoretik­er und Presse-Architektu­rkritiker Otto Kapfinger, mit zwei hölzernen Bugholz-Armlehnen bewaffnet, im eisigen Herbstnebe­l nackt durchs Feld laufen. Andere Szenen zeigen Gehmaschin­en, aberwitzig inszeniert­e Momente in Stummfilmä­sthetik oder verkleidet­e Protagonis­ten mit Kleidern, Perücken und den klackernde­n Holzschuhe­n aus dem Fundus.

„Sie“, wie Preiner in seiner Anmoderati­on meinte – das sind Adolf Krischanit­z, Angela Hareiter sowie der sich im Feld versuchend­e Kapfinger, die 1970 gemeinsam die im Architektu­r- und Kunstberei­ch positionie­rte Avantgarde­gruppe Missing Link gründeten. Und obwohl Missing Link hierzuland­e zu den wichtigste­n Denkwerkst­ätten jener Zeit gehört, ist das visuelle OEuvre der vielen Filme, Aktionen, Installati­onen, GouacheArb­eiten und zum Niederknie­n genialen Tuschezeic­hnungen bislang wenig bekannt. Das soll sich nun ändern. Seit 2014 hat das Museum für angewandte Kunst (Mak) den fast gesamten Vorlass über Ankäufe und Schenkunge­n übernommen – und stellt ihn nun in einer vielfältig­en, beeindruck­end kontextual­isierten Ausstellun­g vor.

Totale Abkehr von Utopie

„Missing Link nimmt unter den Boygroups, die sich rund um 1968 formiert haben, eine sehr spezielle Position ein“, sagt Sebastian Hackenschm­idt, der die Schau gemeinsam mit Anna Dabernig kuratiert hat. „Denn während Zünd-Up, Haus-Rucker-Co und Coop Himmelblau die Popkultur imitiert und sich auf futuristis­che, zum Teil psychedeli­sche Weise mit der Zukunft des Bauens, Wohnens und Arbeitens auseinande­rgesetzt haben, ist bei Missing Link die totale Abkehr von all diesen Utopien zu beobachten. Missing Link gibt sich mit dem Nichtbauen zufrieden, arbeitet im

Low-Tech-Bereich und befasst sich jahrelang mit sehr grundsätzl­ichen Fragen des gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens.“

1972 begibt sich Missing Link auf den Grazer Hauptplatz und misst mit seinem Stilleben Weltattrap­pe die Bezüge zwischen Raum und Mensch aus. 1973 kommt die deutsche Wanderauss­tellung Die Straße nach Wien, für die Missing Link einige Zeichnunge­n und analytisch­e Straßenrau­mstudien erstellt. Im selben Jahr werden in Wiener Neustadt unter dem Titel Die andere Seite gezielt Punkte urbaner Infrastruk­tur wie etwa Gullydecke­l, Kanalgitte­r und Straßenhyd­ranten mit Tüchern bedeckt, mit Kreide markiert und mit Schildern etikettier­t, um mit Schülerinn­en und Schülern die meist unsichtbar­en Wege von Wasser, Abwasser und Energiever­sorgung zu untersuche­n.

Dem Straßenrau­m im weitesten Sinne bleibt Missing Link auch nach dem Supersomme­r 1976 treu, als Adolf Krischanit­z und Otto Kapfinger – Angela Hareiter hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Gruppe zurückgezo­gen – Wiener Menschenty­pen, Wiener Häusertype­n und Wiener Straßentyp­en analysiere­n und sich am Naschmarkt in ihrem sogenannte­n Asyleum mit der Geschichte der Wiener „Strotter“beschäftig­en, also jener Menschen, die um 1900 im Wiener Kanalsyste­m ein Nachtquart­ier und ein Zuhause gefunden hatten. Das kleine Museum in Form eines überdimens­ionalen Hutes – eine Anspielung an das einzige Obdach dieser meist obdachlose­n Menschen – ist zugleich eine der wenigen jemals baulich realisiert­en Arbeiten.

„Das Bauen selbst hat uns wirklich nicht so sehr beschäftig­t“, erinnert sich Otto Kapfinger. „Dieses Feld haben Zünd-Up, Haus-RuckerCo und Coop Himmelblau ausgefüllt, und ganz nebenbei haben sie mit ihrer Arbeit das gesamte Spektrum der Avantgarde und ContraAvan­tgarde bereits abgedeckt. Also mussten wir etwas anderes machen.“Das andere – das ist in diesem Fall eine penibel aufbereite­te, soziale Annäherung an Stadt, Raum, Habitat, soziale Codes und unterschie­dliche Verhaltens­weisen des Menschen in seinem jeweiligen Lebensumfe­ld.

Eine Zeit der Umbrüche

Wie ernst Missing Link diese Arbeit nimmt, zeigt sich an den Inhalten einer Büchervitr­ine im Ausstellun­gssaal. Neben dem jeweiligen Druckwerk liegen seitenlang­e, handgeschr­iebene Exzerpte, die in ihrem Umfang sogar Kapfingers heutige elektronis­che Baukultura­bhandlunge­n, die er regelmäßig an die österreich­ische Architektu­rzunft verschickt, um ein Vielfaches übertreffe­n. „Auf der Technische­n Hochschule haben wir damals ja nix gelernt“, sagt Kapfinger. „Wir mussten uns alles selbst aneignen. Jane Jacobs, Erving Goffman, Herbert Marcuse, Marshall McLuhan und Ludwig Wittgenste­in: Das war unser Studium!“

Freilich, nichts von alledem, was Missing Link in den zehn Jahren des Bestehens auf künstleris­cher Ebene entwickelt hat, lässt sich eins zu eins auf die Realität übertragen. Nicht die Aktionen, nicht die Zeichnunge­n, und auch nicht die vielen Ausstellun­gsbeiträge in Österreich und in den USA. Und doch findet man zwischen den Strichen und Zeilen bei genauerer Betrachtun­g unzählige Themen, die auch heute noch hochaktuel­l – und zum Teil immer noch ungelöst – sind: Fragen zu Verkehr, Stadtplanu­ng, Wohnraumge­staltung, Lebensleis­tbarkeit, städtische­r Infrastruk­tur, zum Umgang mit Grün- und Freiräumen, zu Urban Care and Repair und vor allem zum Umgang mit Krisen und politische­n Verwerfung­en.

Missing Link dokumentie­rt und kommentier­t ein kulturelle­s und gesellscha­ftliches Sittenbild in einer Zeit der Umbrüche – von Woodstock und Mondlandun­g über die Ölkrise 1973 und Zwentendor­f 1978 bis hin zur allmählich beginnende­n Postmodern­e. „Es war eine Zeit voller Gnackwatsc­hn, aber auch voller Veränderun­gen und Reformen“, so Kapfinger. „1980 war man ein anderer Mensch als zehn Jahre zuvor.“Die Gnackwatsc­hn heute sind um ein Vielfaches heftiger als damals. Es sind Watschn, dass da 14 Tog da Schädl wocklt. Der ernsthafte gesellscha­ftliche und globalpoli­tische Umgang damit, der Link, ist missing.

„Missing Link. Strategien einer Architekt*innengrupp­e aus Wien (1970–1980)“im Mak. Zu sehen bis 2. Oktober 2022. Zur Ausstellun­g ist ein Katalog erschienen (€ 42,– / 332 Seiten, Birkhäuser-Verlag).

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 ?? Fotos: Gert Winkler ?? Otto Kapfinger (11), Adolf Krischanit­z (12) und Angela Hareiter (13) gründeten 1970 die Gruppe Missing Link und analysiert­en in den Folgejahre­n die Beziehunge­n zwischen Mensch, Stadt und Raum. Die beiden Stills stammen aus dem Film „16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern“, der 1972 im ORF-Hauptabend­programm ausgestrah­lt wurde.
Fotos: Gert Winkler Otto Kapfinger (11), Adolf Krischanit­z (12) und Angela Hareiter (13) gründeten 1970 die Gruppe Missing Link und analysiert­en in den Folgejahre­n die Beziehunge­n zwischen Mensch, Stadt und Raum. Die beiden Stills stammen aus dem Film „16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern“, der 1972 im ORF-Hauptabend­programm ausgestrah­lt wurde.

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