Niemand redet über Moskaus Atomgeschäfte
Frankreich ist stolz auf seine energiepolitische Unabhängigkeit dank seines Atomstroms, kooperiert dabei jedoch stark mit Russland – und ist damit nicht das einzige EU-Land.
Die Kernkraft ist der tote Winkel der Russland-Sanktionen: Sie wurde schlicht „übersehen“. Dabei gäbe es kaum eine geeignetere Zielscheibe als den Nuklearkonzern Rosatom. Mit seinen 300 Subunternehmen und 250.000 Angestellten ist „die nationale Gesellschaft für Atomenergie“ein Flaggschiff russischer Wirtschaftsmacht. Mit der obligaten Kreml-Nähe: Gegründet hatte das Staatsunternehmen im Jahre 2007 ein gewisser Wladimir Putin.
Rosatom zu sanktionieren stand aber im Westen bisher nie zur Diskussion. Die globalen Verflechtungen sind zu eng. Von den 57 Reaktoren, die auf dem Planeten seit 2011 gebaut wurden, sind die Russen an 13 beteiligt, und zwar offen oder verdeckt federführend. In Osteuropa – Tschechien, Bulgarien, Ungarn, der Slowakei und Finnland – vermögen nur russische Ingenieure die teilweise aus der Sowjetzeit stammenden Meiler zu steuern und unterhalten. Die Gebrauchsanleitung liege im Kreml, resümierte das französische Fachmagazin L’Usine Nouvelle.
Gerade Frankreich, das die meisten zivilen Reaktoren nach den USA betreibt (deren 56) und über 70 Prozent seines Stroms aus Atomkraft bezieht, kooperiert auf allen Ebenen mit dem Rosatom-Koloss. Die Franzosen verfügen zwar in La Hague über eine eigene Wiederaufbereitungsanlage. Dort stauen sich aber 33.000 Tonnen radioaktives Material, das nur in der sibirischen Fabrik in Tomsk von Rosatom nachbehandelt werden kann. Dieser Umstand wird in Paris gern verdrängt.
Offiziell ist Frankreich stolz, dank seiner Atomkraft energiepolitisch unabhängig zu sein. Dieses Narrativ sei allerdings „ein Mythos“, sagt Charlotte Mijeon vom Ausstiegsnetzwerk Sortir du Nucléaire. Seit 2001, als in der Bretagne die letzte Uranmine geschlossen wurde, importiert Frankreich hundert Prozent seines natürlichen Urans, das meiste aus Kasachstan, Niger, Australien und Kanada. Diese Herkunftsländer sind zwar geopolitisch gut diversifiziert. Hauptlieferant Kasachstan exportiert sein Uran aber über Rosatom, hängt also von Putins Placet ab.
Enge Kooperationen
Russische Ingenieure sind heute in Frankreich an der ganzen nuklearen Wertschöpfungskette beteiligt. Erst Ende 2021 hat Rosatom mit Framatome ein „Strategieabkommen“geschlossen, mit dem Ziel, 20 Prozent des französischen AKW-Bauers zu übernehmen. Damit könnten die Russen sogar auf Entwicklung und Bau der Arabelle-Turbinen – des Herzstücks der französischen Nuklearindustrie – einwirken.
Diese engen Kooperationen sind fast unauflösbar. Das gilt auch für Länder wie die Türkei, Saudi-Arabien, Iran oder China, wo die Russen Reaktoren bauen. Noch abhängiger machen sich Drittweltstaaten, wenn sie russische Atomtechnologie kaufen. Auch deshalb wollen Ägypten, Bangladesch oder Indien die Ukraine-Invasion nicht recht verurteilen.
Rosatom liefert allerdings bis in die USA. Auch für die Brennstäbe der vieldiskutierten „small modular reactors“(SMR), einer Art verschiffbarer Minimeiler, ist man auf die russische Rosatom angewiesen. Das erklärt wiederum, warum auch Washington keine Sanktionen im Bereich der zivilen Nuklearindustrie ins Auge fasst. Putin hatte vorgesorgt. „Russland hat in den vergangenen Jahren auf dem Nuklearsektor gezielt eine strategische Position aufgebaut“, sagte Anke Herold vom deutschen Öko-Institut im Deutschland-Funk.
Natürlich denkt die US-Nuklearbranche nun um. Die Loslösung wird aber Jahre in Anspruch nehmen. Besser spät als gar nie, sagt sich Finnland, wo zwei der europäischen Reaktoren sowjetischer Machart am Netz sind. Am Dienstag hat Helsinki einen Vertrag für den Bau eines weiteren russischen Reaktors mit Verweis auf den Ukraine-Krieg kurzerhand annulliert. Auch Bulgarien und Rumänien haben bereits Schritte unternommen, um sich von Rosatom loszueisen. Ohne Entschädigung und politischen Druck wird das jedoch nicht möglich sein.