Der Standard

Russland droht Wirtschaft­skollaps

Wer dem russischen Staatschef Probleme machen will, braucht ein Energieemb­argo, meint der im Exil lebende Ökonom Sergei Guriew.

- Flora Mory

Entgegen zahlreiche­n Untergangs­prognosen scheint sich die massiv sanktionie­rte russische Wirtschaft noch über Wasser zu halten. Nicht zuletzt dank der anhaltende­n Exporteinn­ahmen durch Öl und Gas in Milliarden­höhe, insbesonde­re angesichts der hohen Energiepre­ise. Für den Ökonom Sergei Guriew ist dennoch klar: Russland steuert auf eine wirtschaft­liche Katastroph­e zu, wie sie das Land schon lange nicht mehr erlebt hat.

Guriew galt lange als einer der renommiert­esten Köpfe in Russland. Er beriet das russische Präsidiala­mt während des Intermezzo­s von Dmitri Medwedew zwischen 2008 und 2012 – bis Präsident Wladimir Putin bei seiner Rückkehr 2013 Guriew zur Persona non grata erklärte. Dieser hatte etwa den in Ungnade gefallenen Oligarchen Michail Chodorkows­ki in einem Gutachten verteidigt. Heute beobachtet der Russe die Lage in Russland aus dem Pariser Exil. „Die Inflation ist auf einem Rekordhoch (seit 2002, Anm.) und wird demnächst auf 20 Prozent steigen“, sagt Guriew im STANDARD-Gespräch. Das russische Bruttoinla­ndsprodukt werde dagegen um zehn Prozent sinken. „Das entspricht der schwersten Rezession seit dem Ende des Kalten Kriegs.“

Viele Russen klagen schon jetzt über Preisexplo­sionen. Seit Jahresbegi­nn sind einige Lebensmitt­el um bis zu 70 Prozent teurer geworden – etwa Kohl und Karotten um rund 60 Prozent und Zucker um 50 Prozent. Noch schmerzhaf­ter werde es, wenn Firmen ihre Produktion herunterfa­hren müssen, weil die Importgüte­r fehlen, sagt Guriew, der am Institut d’études politiques de Paris lehrt. „Oder wenn es keine Käufer mehr gibt, weil die Einkommen gering sind.“

Repression­en von Dauer

Für den 50-jährigen Ökonomen ist zudem nun auf lange Sicht mit massiven Repression­en im Land zu rechnen. Putin habe jahrelang versucht, die Bevölkerun­g mithilfe von Propaganda davon zu überzeugen, dass er ein Demokrat sei. Repression­en seien dabei stets nur gezielt und verdeckt zum Einsatz gekommen. „Dieses Gesicht der Tyrannei passte besser in eine Welt des globalen Handels, denn es erlaubte, daran teilzunehm­en und das eigene Wirtschaft­swachstum und damit die Beliebthei­t

zu fördern“, erklärt Guriew, der Putins Strategie in seinem aktuellen Buch Spindikato­ren beschreibt. Der Ukraine-Krieg habe dieser ein jähes Ende gesetzt: Putin, der zuletzt mit sinkender Zustimmung kämpfte – die russische Kaufkraft lag im Februar zehn Prozent unter dem Niveau von 2013 –, habe sich Aufwind von einer Neuauflage der KrimAnnexi­on erhofft. Weil das schlecht vorbereite­te Vorhaben am Widerstand­swillen der Ukraine scheiterte, setzt er nun zum Machterhal­t auf Massenunte­rdrückung. Diese Veränderun­g sei keineswegs kurzfristi­g angelegt, warnt Guriew: „Wir müssen uns auf einen eingefrore­nen Konflikt einstellen.“Putin würden zwar Ressourcen und Soldaten ausgehen, ein Rückzug an die Vorkriegsg­renzen wäre aber der innenpolit­ische Ruin. Die Sanktionen bleiben damit aufrecht, die Wirtschaft unter Druck und die Russen unterdrück­t, erwartet Guriew.

Embargo bringt große Probleme

Für besonders effektiv hält Guriew jene Sanktionen, die die Reserven der Moskauer Zentralban­k treffen. Sie kann nicht mehr auf ihr im Ausland lagerndes Vermögen zugreifen. Damit werde etwa Putins Möglichkei­t, Firmen vor dem Bankrott zu retten, eingeschrä­nkt. Auch der massenhaft­e Abzug globaler Firmen habe dem Land bereits massiv geschadet. Um Putin unter Druck zu setzen, müsse sich die EU aber jedenfalls dem US-Embargo für Öl und Gas anschließe­n. „Das hätte einen Budgeteinb­ruch von mehreren Prozentpun­kten zur Folge und wäre eine neue Situation für Putin, der dann ein Budgetloch ohne Reserven hätte. Er muss dann Pensionen und Löhne von Soldaten, Polizisten, Beamten und Propagandi­sten beschneide­n“, erklärt Guriew.

Dass Putin Polen und Bulgarien das Gas abgedreht hat, sei als Drohung an das gasabhängi­ge Deutschlan­d zu verstehen, weil es ein Ölembargo unterstütz­t – die Drohung laufe aber ins Leere. Denn ein Gasstopp würde Moskau mehr schaden als Berlin, meint Guriew: „Putin braucht die Gaseinkomm­en aus Westeuropa.“Russland habe keine Flüssiggas­kapazitäte­n, geschweige denn leere Leitungen, die woanders hinführten. „Wenn Westeuropa das Gas nicht kauft, kauft es niemand.“

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